
Trauerfeier für Walter Jens : Das letzte Wort
- -Aktualisiert am
Abschied von Walter Jens Bild: Fricke, Helmut
Sie haben einen guten Mann begraben: Die Trauerfeier für Walter Jens bringt es, mit Mozarts Requiem, ans Licht: Wahre Aufklärung gibt es nur im Himmel. Eine Tübinger Abschiedsszene.
Man kann nicht spüren, dass Tübingen, diese große, kleine, früher so rohe und abweisende, gleichwohl alleweil geistesstarke Stadt, die sich aber zu einem wunderhübschen urbanen Fachwerk- und Winkelgässchen-Freiluftpark mit angeschlossener Universität und Unmengen von Gartenwirtschaften und Flusspartiemöglichkeiten herausgeputzt hat - dass also diese ehrwürdige Kommunität um ihren gerade größten gestorbenen Sohn groß öffentlich trauern würde.
Die Buchhandlung Gastl bietet neben der üblichen Dutzendware („Das Leben ist kein Streichelzoo“, „Die nachhaltige Pflege von Holzböden“) eine kleine, kümmerlich verlegene Auswahl von (alten) Büchern von Walter Jens: „Eine deutsche Universität“, „Reden zum Sport“, „Unser Uhland“ (zusammen mit Hermann Bausinger), „Texte zur Weihnachtsgeschichte“, „Frau Thomas Mann“ (zusammen mit Inge Jens). Nicht die Hauptwerke, nicht „Die Mythen der Dichter“, nicht „Statt einer Literaturgeschichte“, nicht die Übersetzung der „Orestie“. Dazu ein kleines Plakat „Wir trauern um Walter Jens“. Die anderen Buchhandlungen trauern nicht.
Der Sich-überall-Einmischer
Die Todesanzeige, die ihm die gegenwärtige Lehrstuhlbesatzung seines ehemaligen, von ihm gegründeten weltberühmten Instituts für Rhetorik in der örtlichen Zeitung widmet, ist sehr überschaubar in ihrer Spaltenweite.
Der Rhetorikprofessor, Schriftsteller, Polemiker, republikanische Redner, Sich-überall-Einmischer, Pazifist, Praeceptor Germaniae, Akademiepräsident, Homo politicus, Essayist, Linker und Großaufklärungsgrundbesitzer scheint auf dem Zauberberg am Neckar, den er - eine Mischung aus Nathan der Weise, Vater Courage und wenigstens Worte, wenn schon nicht Wirklichkeiten verändernder Prospero - über Jahrzehnte beherrschte, doch irgendwie eine Figur respektvoll anerkannter Vergangenheit zu sein.
Man kann dann aber doch spüren und erleben, wie Tübingen trauert. Gegenüber der Stiftskirche, dieser prachtvoll ausladenden, spitzhütig gezierten gotischen Schönen am Holzmarkt, wo sie wie eine dominante Glucke die Stadt überprangt, steht an einer Hausmauer gleich neben dem Café „Tangente“ der dort aufgesprühte Spruch „Im Grunde aber hat kein Leben einen Namen“. Eines der schwärzesten theologischen Graffiti, die sich denken lassen.
Des Lebens aber, das den Namen Jens trägt, wird in der Stiftskirche drinnen gedacht. Gekommen sind universitäres und politisches Bürgertum, in die Jahre gekommene, meist sozialdemokratische, Würdigkeit, Gebildetheit und Citoyen-Bewusstheit. Man sieht Klaus Staeck, den Nachfolger von Jens im Amte des Präsidenten der Berliner Akademie der Künste, man sieht Freunde, Wegbegleiter, Schüler, ehemalige Studenten, Professoren, jede Menge Emeriti; die wissenschaftliche Klasse ist gut vertreten, die literarische wie die politische fehlt, wenigstens in ihren Spitzen. Man ist unter Jensianern unter sich.
Ein Beschwörer Mozarts
Dass dem Mann des Wortes, der Polemik, der eingreifenden Rede nicht im Audimax der Universität, wo er so oft der Stadt und dem Erdkreis Wert und Würde aufklärerischer Literatur nahebrachte, die Totenfeier gehalten wurde, sondern in einer Kirche, dem Ort der Kanzelrede, gehört zu den Aporien, die aber auch zu ihm passen. So steht sein Sarg vorne vor dem herrlichen, von einem hinreißend grazilen Lettner abgeschlossenen Altarraum des evangelischen Gotteshauses. Und verdeckt fast den Dirigenten.
Als ob der Tote lieber selbst den Stab noch führen wollte - allerdings in einer Disziplin, die ihm eher fremd blieb, obwohl er in einem Vorlesungsdiskurs über „Don Juan: Dämon und Schwerenöter“ den Dämon ganz der Musik Mozarts zuschrieb, die er mehr emphatisch als kenntnisreich weniger beschrieb, mehr beschwörte. Dem Mann und Kerl Don Juan bescheinigte er weniger Attraktivität als blasse Chuzpe. Und jetzt stehen und sitzen der Tübinger Bach-Chor und die Camerata viva um den Sarg von Walter Jens und lassen Wolfgang Amadeus Mozart die Totenrede auf den Professor halten. Mozart spricht mit dem „Requiem“ hier sozusagen das letzte Wort zu Jens.
Es gibt keine anderen Nachrufe. Die Familie hat es so gewünscht. Man gewährt dem Toten keine Reden in freier professoraler oder politischer oder literarischer Manier. Man konfrontiert den protestantischen Jesuaner, der seinen Glauben immer eher als eine Gleichklangsfrömmigkeit im Weiterschreiten sozialer und liberaler Praxis (der Heiland mit Dienstsitz im Willy-Brandt-Gotteshaus) begriff und aussprach, mit den Unabdingbarkeiten und den ehernen, felsenfesten apokalyptischen Gewissensqualen, aus denen nur ein barmherziger, vom trauernden, auf ewige Ruhe hoffenden Gläubigen angeflehter Jesus (mit Dienstsitz zur Rechten Gottes) heraushilft. Das hat etwas von ungeheurem Widerspruchsreiz, aber auch von großer Wucht und Würde.
Nur der hausherrliche Pfarrer spricht ein paar Psalmen („Ich hebe meine Blicke auf zum Herrn“), predigt nach dem „Confutatis maledictis“ im „Requiem“, die Musik ist unterbrochen, ein Kurzes im kopierten Jensschen Stil („doch genug davon“) zum Leben und den Lebensumständen des Walter Jens, dessen Motto „Glück gehabt“ lauten könnte. Bis hin zu dem bewegenden, beschworenen und bedankten - und da ersticken dem Geistlichen fast die Worte in Tränen - Glück, eine ganz einfache, aber offenbar wunderbare Pflegerin gefunden zu haben, die aus dem Leiden des Verstorbenen eine Strecke auch des Trostes und der humanen Hoffnung gemacht habe. Sonst spricht Mozarts Musik.
Verdämmern ohne Sprache und Gedächtnis
Abgesehen davon, dass Jens im Jahr 1998 zu Mozarts „Requiem“ (KV 626) Zwischentexte, Reflektionen schrieb, die den ewigen protestantischen Aufklärer Jens und Auf-Verbesserung-der-Welt-Hoffer als doch etwas leichtfertigen Um- und Gegendeuter und Verharmloser der gewaltigen katholischen Totenmesse zeigt, die das jüngste Gericht und die Flammen der Verdammnis und die Sühne für alle Sünden und die Gnadenlosigkeit eines Gottes beschwört, bei dem allein die unberechenbare Gnade liegt; abgesehen auch davon, dass Jens im Jahr 2006, als er zur „Requiem“-Musik seine „Requiem“-Gedanken vortrug, plötzlich das Vermögen, etwas vorzulesen, verließ, er stockte und stotterte und sich so seine Demenz, an der er über die Jahre ohne Sprache und Gedächtnis hinweg verdämmerte, offenbarte; abgesehen auch davon, dass die Stiftskirche, in der einst die Universität Tübingen gegründet wurde und die sozusagen deren erster öffentlicher Raum war, zum Tübinger Öffentlichkeitsspieler und -Nutzer Walter Jens doch wunderbar passt: Es ist ein seltsam Empfinden, wenn jenseits aller Rhetorik und jedes Meinens und Polemisierens und Kritisierens, jedes Forschens und Ergründens und jeder Buchgelehrsamkeit ein Satz in die vollbesetzte Kirche fährt: „Liber scriptus proferetur“ (Und ein Buch wird aufgeschlagen, treu darin ist eingetragen, jede Schuld auf Erdentagen), wo sich dann „solvet saeclum in favilla“ (das Weltall sich entzündet) und „quantus tremor est futurus“ (ein Graus wird sein und Zagen).
Mozart macht, von d-Moll über F-Dur, as- und es-Moll, keine Kompromisse. Posaunen, Trompeten, Bassethörner, Pauken und Bass-Stauchungen donnern derart trostlos und ratlos und endgültig schroff und panisch katastrophisch auf den Gläubigen nieder (man höre dazu die gewalttoll apokalypsengewisse Aufnahme mit Nikolaus Harnoncourt und dem Concentus Musicus Wien!), dass selbst in einer so harmlos besänftigten, rhythmisch ziemlich vergemütlichten Aufführung, um die sich die wackeren Tübinger Sänger redlich und nicht immer intonationssicher bemühen, die Wucht dieses letzten Wortes erfahrbar wird.
Dass das „Lux perpetua“, das ewige Licht, für Walter Jens immer ein ewiges Aufklärungslicht gewesen ist, entzündbar nicht im Himmel, sondern als bunte und etwas immer wie von selbst flackernde Fackel des Fortschritts („Frieden schaffen ohne Waffen“) auf Erden zu befeuern, dreht sich zu den Pauken und Trompeten und den tiefen Streichern Mozarts hier um: Die ganze Aufklärung gibt es letztlich nur im Himmel. Das letzte Wort wird dort gesprochen. (Walter Jens weiß das jetzt auch.) Draußen dann nach einem letzten Gebet drinnen („Vater unser, der du bist im Himmel“) die gleißende Sonne des Tübingers Sommers. Der Spruch vom Leben, das keinen Namen hat, steht immer noch da. Er stimmt immer noch nicht.