Neues aus der Tintenwelt : „Orpheus“ von Cornelia Funke
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„Ich hab meine Nase schmaler gemacht.“ Teufel, dieses Land war ein gefährlicherer Ort, als er gedacht hatte, wenn vierzehnjährige Mädchen neue Nasen herbeischreiben konnten oder solche Schmerzen wie die, die den Glasmann zappeln ließen.„Muss man die Worte laut lesen?“ Severina schüttelte den Kopf. Das war enttäuschend. Orpheus war immer stolz auf seine samtene Stimme gewesen. Andererseits – so waren die Künste des Buchbinders und seiner Tochter hier ebenfalls nutzlos. Der Gedanke war ermutigend. „Wer hat dir gezeigt, wie es geht?“ Nesselsaft und Blut ..., darauf war sie sicher nicht allein gekommen. Sie versuchte nicht, die Schadenfreude in ihrer Stimme zu verhehlen. „Die Worte gehorchen nur Frauen.“ Das war neu. Die Worte auf dem Pergament hatten sich in der Spucke aufgelöst. „Noch mal ... Wer hat es dir gezeigt?“ Das Mädchen schüttelte den Kopf. „Man fällt tot um, wenn man sie verrät.“ „Sie?“
Er drohte, das Pergament ihren Eltern zu zeigen, aber Severina schwieg. Sie hatte Angst. Soweit Orpheus bekannt war, hatte weder Fenoglios Name noch sein eigener je solche Gefühle ausgelöst. Beeindruckend. Die Frau des Bäckermeisters kam herein, als Orpheus ihre Tochter gerade bei den Zöpfen packen und ihr die Wahrheit mit Gewalt entlocken wollte. Er klaubte die Pergamentfetzen vom Boden auf, bevor er sich empfahl. Tinte, die sich in Spucke auflöste. Blut. Nesselgift. Es schien, dass man hier etwas mehr Aufwand betreiben musste, um Worte zum Atmen zu bringen. Aber – es war möglich. Sie ... Eisenglanz schlief erschöpft neben dem Tintenfass, als Orpheus nach Hause kam, aber er lebte. Orpheus fand Rudolph in der Küche. „Zu wem gehe ich, wenn ich Zauberworte brauche?“ Der Mann zog den Kopf ein wie ein Huhn, dem man mit dem Beil drohte.
Aber als Orpheus ihm einen seiner schwer verdienten Taler unter die Nase hielt, wurden die braunen Augen rund wie die Münze. Er hatte vier Kinder durchzufüttern. Das Jüngste hatte ihn zum Witwer gemacht.

Er hatte so verzweifelt Arbeit gebraucht, dass es sehr leicht gewesen war, seine Bezahlung herunterzuhandeln. „Man geht besser nicht zu ihnen“, murmelte er, ohne die Augen von der Münze zu nehmen. „Zu wem? Nun rede schon, oder ich stecke die Münze wieder ein. Deine Kinder sehen sehr verhungert aus.“ Die Hände klammerten sich fester um den Besenstiel. „Hexen.“ Rudolph sprach das Wort aus, als könnte es ihm die Lippen verbrennen. O ja, das können sie, guter Mann. Hexen. Fenoglio hatte nie über Hexen geschrieben. Orpheus wäre Rudolph fast um den schmächtigen Hals gefallen. Ombra war kaum hundert Meilen entfernt und diese Berge wussten nichts von Fenoglios Worten. Oh, diese Welt war groß! Sie war ganz offensichtlich so viel größer als das lächerliche Tintenreich, in dem der alte Mann sich wie ein König gebärdete. Oh Orpheus! Wie hast du nur je schlecht über diese Berge reden können! Sie würden ihm neue, finsterere Worte für seine Rache liefern. Worte, die nach Nesselsaft und Blut schmeckten. Nach schwarzer Magie und neblig kalten Nächten. Es gab so viel zu lernen. „Wo finde ich eine Hexe?“
Er spürte schon, wie sich die Worte in ihm regten, all die Worte, die leben wollten. Orpheus hörte sie flüstern. Nein. Sie krächzten wie Raben, bellten wie tollwütige Hunde, heulten wie hungrige Wölfe. Er hörte sie schon so lange. Der Diener schloss die Finger um die Münze. „Im Wald ... Sie sind immer im Wald. Weit abseits der Wege. Aber es gibt gute und böse.“ Bestens.„Wo finde ich eine böse?“, fragte Orpheus.
Cornelia Funke