Neues aus der Tintenwelt : „Orpheus“ von Cornelia Funke
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Wörter ... Sie benutzten sie wie Schubladen, in denen alles Leben wie vertrocknetes Brot abgelegt war! Kein Wunder, dass er schlecht schlief. Jeder Tag hinterließ nichts als Fußspuren aus toten Buchstaben und er hörte das Kratzen der Federn noch im Traum.
Orpheus fand den Pergamentstreifen, als er beim Abendessen saß. Er hatte sich gewundert, mit welchem Gleichmut seine neue Schülerin es hingenommen hatte, dass Eisenglanz mindestens ein Dutzend Mal über ihre ungelenken Buchstaben spaziert war. Aber wusste er nicht selbst, wie viel Gleichmut die Aussicht auf Rache brachte? Das dumme Ding hatte den Streifen in einem der Bücher versteckt, die er neben ihr auf dem Tisch abgelegt hatte. Die Schrift war eindeutig ihre Handschrift, obwohl sie sich beim Schreiben etwas mehr Mühe gegeben hatte.
Ein Tropfen Blut und Nesselsaft
Gibt meinen Worten Zauberkraft
Der Glasmann soll sich winden
Vor Schmerzen wie ein Wurm
Sieh an! Die Tochter des Bäckermeisters glaubte an die Macht der Worte! Orpheus blickte sich um. Der Glasmann soll sich winden ... Eisenglanz war nirgends zu entdecken, aber das bedeutete nichts. Der Glasmann verbrachte die meisten Abende damit, Brunecks enge Gassen nach seinesgleichen abzusuchen, obwohl Orpheus ihm immer wieder erklärte, dass Glasmänner nur die absurde Schöpfung des Tintenwebers waren und damit in diesem Teil der Welt nicht existierten.
Vielleicht hatte Rudolph Eisenglanz gesehen, Orpheus hatte den Diener eingestellt, obwohl er ihn sich eigentlich nicht leisten konnte. Er wollte gerade nach ihm rufen, als er ein gläsernes Keuchen hinter der Zuckerdose hörte. Eisenglanz’ Beine strampelten hilflos, und seine Stiefel schabten Kerben in den Tisch, an dem Orpheus so viele Nächte vergebens versucht hatte, Worte ins Leben zu lesen. Ja. Er wand sich tatsächlich wie ein Wurm.
Orpheus starrte fasziniert auf den sich krümmenden Glasmann herab.
Oh, das war fantastisch.Es war ganz und gar wunderbar! Eisenglanz wand sich immer noch, das Gesicht verzerrt vor Schmerz und hilflosem Zorn, als Orpheus Rudolph befahl, ihm seinen Mantel zu bringen. Der Mann war langsam wie eine Weinbergschnecke. Nun, wenn ihm die Worte erst wieder gehorchten, ließ sich das schnell ändern. Alles ließ sich ändern!
Draußen war der Himmel immer noch klar. Ein blasser Mond hing über den mit Holzschindeln gedeckten Dächern, und die Gassen waren menschenleer bis auf eine Zigeunerin, die nach seiner Hand griff, um ihm die Zukunft zu lesen. Orpheus stieß sie aus dem Weg. Die Zukunft würde so sein, wie er sie schrieb!
Der Diener des Bäckermeisters blickte säuerlich überrascht, als er Orpheus zu so ungewohnter Stunde vor der Tür stehen sah, aber er glaubte die Geschichte von den vergessenen Hausaufgaben. Seine Schülerin war weniger dumm. Severina Haberkorn wusste, warum ihr Lehrer so spät am Abend nach ihr verlangte.
„Lass es aufhören!“, fuhr Orpheus sie an. „Und zwar auf der Stelle.“ Warum sich mit Höflichkeiten aufhalten. „Ich brauche den Glasmann noch. Und ich will wissen, wie du es machst.“

Severina blickte zur Tür. Orpheus war nicht sicher, ob sie es in der Hoffnung tat, ihre Eltern dort zu sehen, oder aus Sorge. In dem stoischen Gesicht war schwer zu lesen. Schließlich streckte sie ihm auffordernd die Hand hin. Orpheus reichte ihr den Pergamentstreifen. Sie spuckte auf die Worte und gab ihm den Streifen zurück. „Das ist alles?“ Ein Nicken. „Was kannst du noch geschehen lassen?“ „Ich kann Jungen verliebt in mich machen.“
„Und?“ Sie biss sich auf die Lippen und warf ihm einen finsteren Blick zu.