Neues aus der Tintenwelt : „Orpheus“ von Cornelia Funke
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Manchmal wurde Orpheus so übel von den Geschichten, dass er sich stundenlang in einen der Eimer übergab, den seine hässliche Wirtin ihrer Ziege hinstellte. All das Gerede von Ombras goldenen Tagen! Von den Glasblumen, die an der Stadtmauer blühten (Glasblumen! Fenoglios Ideen wurden mit zunehmendem Alter immer kitschiger). Es hieß, dass in Ombras Bäumen silberne Nachtigallen sangen, dass ein Riese mit seinem Sohn das Stadttor bewachte und dass man neuerdings auf dem Markt fliegende Teppiche kaufen konnte.
O ja, Fenoglio füllte ganz offensichtlich Bücher mit seinen dummen Buchstabenspäßen, während er, Orpheus, vor Kälte kaum die Finger um die Feder krümmen konnte und mit Tinte schrieb, die zäh wie Teer auf das fleckige Pergament floss, dass die Händler hier verkauften.
War es ein Wunder, dass seine Worte nichts bewirkten?
Was hatte ihn nur geritten, sich von der Burg im See nach Norden zu wenden?
Der Himmel war tatsächlich blau, als Orpheus sich auf den Weg zu einer neuen Schülerin machte. Aber die erste Pfütze, in die er trat, füllte ihm die Stiefel mit wässrigem Ziegenmist.

Ach, Orpheus! Was ist aus dir geworden? All der Reichtum ... verloren! All die Macht! All das Ansehen! Verspielt!
Er hatte erneut eine schlaflose Nacht damit verbracht, sich zu fragen, an wem er sich zuerst rächen würde ... An dem Buchbinder? An Fenoglio? Oder doch zu allererst an Staubfinger ... Ja, sein Name war immer noch der schmerzendste Dorn in Orpheus’ frierendem Fleisch. Er konnte den Abscheu im Blick seines Jugendhelden einfach nicht vergessen. Wie eine Made hatte er sich gefühlt, die aus verwesendem Fleisch gekrochen war ...
Ja, zuerst würde er sich an Staubfinger rächen. Rache. Die Aussicht darauf machte die Dummheit seiner Schülerinnen erträglich – und die Arroganz ihrer reichen Väter. Der Bäckermeister, der einen Lehrer für seine vierzehnjährige Tochter Severina suchte, hieß Alois Haberkorn und backte schlechtes Brot, aber er hatte es durch Geiz und Geschäftstüchtigkeit zu beträchtlichem Reichtum gebracht. Angeblich lieh sich selbst der König Geld von ihm.
Der Diener, der ihm die Tür öffnete, warf dem Glasmann auf Orpheus’ Schulter einen misstrauischen Blick zu, bevor er ihn wortlos in den Raum führte, in dem seine Schülerin wartete. Die Masken an den Wänden sah man in vielen Häusern der Stadt. Orpheus fand die geschnitzten Fratzen abscheulich, aber angeblich hielten sie allerlei unerquickliche Berggeister fern. Ein Tisch, eine Bank, ein Ofen – der Bäckermeister verschwendete kein Geld für die Einrichtung seines Hauses.
Severina Haberkorn stand so kerzengerade in der Mitte des Saals, als wäre sie zum Appell angetreten. Sie trug das aschblonde Haar geflochten und straff zurückgesteckt, wie es Sitte in diesen Breiten war. Der plumpe Körper zeigte erste Anzeichen von Fraulichkeit.
„Setz dich.“
Orpheus schlug mit einem Seufzer eins der Bücher auf, die er für den Unterricht benutzte. Er hatte sie einem Tuchhändler gestohlen, dessen Tochter er ebenfalls unterrichtete. Der Mann hatte von dem Diebstahl, wie erwartet, nichts bemerkt. Die meisten Reichen dieser Stadt betrachteten Bücher nur als notwendige Dekoration und verspürten nicht die geringste Versuchung, sie jemals aufzuschlagen. Das war zugegebenermaßen in Ombra nicht anders.
Severina setzte sich wortlos an den Tisch und griff nach der Feder, die neben dem Tintenfass bereitlag. Sie gab sich alle Mühe, den Glasmann nicht anzustarren.
„Meine Methode funktioniert folgendermaßen“, erklärte Orpheus, während er Eisenglanz auf dem Tisch absetzte. „Falls du dich nicht konzentrierst und dich verschreibst, wird der Glasmann durch die feuchte Tinte laufen. Solltest du trödeln oder ganze Worte auslassen, gießt er dir die Tinte übers Pergament.“
Eisenglanz lächelte böse, während er sich neben dem Tintenfass aufstellte. Diese Maßnahmen waren pädagogisch sicher fragwürdig, aber sie machten das Unterrichten sowohl für Orpheus als auch für den Glasmann wenigstens etwas unterhaltsam. Severina verschrieb sich oft. Bei allen Nachtmaren – sie war noch dümmer als die anderen Mädchen, die Orpheus unterrichtete!