Mittelalterliche Schocktherapie : Handfest gegen die Melancholie
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Der Heilige Cyriakus auf dem Heller-Altar des Matthias Grünewald Bild: Städel Museum - Artothek
Fotografisch genau wird auf einem Bild Matthias Grünewalds, das derzeit in der Dürer-Ausstellung in Frankfurt zu sehen ist, die Behandlung einer „Besessenheit“ dargestellt. Wie heilte man im Mittelalter?
Im Schatten der derzeitigen Dürer-Ausstellung im Städel sind auf dem „Heller-Altar“ vier Grisaillen-Malereien von Matthias Grünewald zu sehen. Auftraggeber des Altars war der Frankfurter Bürger Jakob Heller, der das Amt eines Armenpflegers der Stadt Frankfurt inne hatte und der beide Künstler für sein Epitaph in der Dominikanerkirche verpflichtet hatte. Grünewalds Gemälde des Heiligen Cyriakus kann dabei als eine medizinhistorische Sensation bezeichnet werden.
Was zeigt das Bild? Man sieht Cyriakus, den Schutzpatron der „Besessenen“, und, neben ihm kniend, die Prinzessin Artemia, Tochter des römischen Kaisers Diokletian. Zwischen beiden liegt die Krone der Prinzessin. Auf seinem linken Arm hält Cyriakus ein aufgeschlagenes Exorzismenbuch, die Beschwörungsformel ist sehr gut zu entziffern: „Auctoritate domini nostri Jesu Christi exorceo te per ista tria nomina. In Nomine Patris et Filii et Spiritus Sancti. Amen“ steht dort: „In Vollmacht unseres Herrn Jesus Christus treibe ich Dich aus durch diese drei Namen. Im Namen des Vaters und des Sohnes und des Heiligen Geistes.“ Am Kragen der Dalmatika des Heiligen befinden sich zwei Schmuckstücke. Das linke ist eine Hopfendolde, das rechte stellt Weinlaub dar. Im Hintergrund des Bildes, über und neben dem Cyriakus sieht man die Blätter und Früchte eines Feigenbaumes - zur Bedeutung der dargestellten Pflanzen später mehr.
Die Stola als Schlinge
Um seine Schultern, mit langen Fortführungen über beide Arme ist eine Stola drapiert, deren rechtes Ende um den Hals der Prinzessin sehr eng geschnürt ist. Mit seinem rechten Daumen drückt Cyriakus auf Artemias Kinn. Artemias Kopf ist leicht zurückgebeugt, ihr Haar ist kurz geschoren, die Augen sind halb geöffnet und seitwärts verdreht, ihr Mund ist leicht geöffnet. Höchst ungewöhnlich die Haltung der Arme und Hände: Erstere sind in den Ellenbogengelenken gebeugt, die linke Hand ist handwärts gedreht, die rechte handrückenwärts. Die Finger beider Hände sind deutlich überstreckt, besonders extrem der kleine Finger der linken Hand. Nahezu fotografisch genau wird die Behandlung einer „Besessenheit“ dargestellt.
In der kunst- und medizinhistorischen Forschung heißt es, dass auf diesem Gemälde ein Exorzismus einer Epileptikerin dargestellt werde. Immerhin sprechen die Wülste über den Augenbrauen dafür, dass die junge Frau oft auf den Kopf gefallen sein könnte. Annehmen könnte man aber auch, dass es sich bei der abgebildeten Kranken um eine Frau handelt, die an einer Psychose gelitten hat. Cyriakus stützt seinen Daumen auf das Kinn der Prinzessin, wodurch es ihm möglich ist, die Stola mit einer Hand als Schlinge zu führen, die er ganz nach Ermessen eng anziehen und lösen kann, etwa um einen vorübergehenden Sauerstoffmangel im Gehirn der „Besessenen“ zu verursachen. Durch den Sauerstoffmangel erklärt sich die Haltung der Finger, die eine „Bajonettstellung“ mit einer Überstreckung der Grund- und Mittelgelenke zeigen. Handhaltungen wie diese repräsentieren das neurologische Bild einer Athetose - Fachbegriff für unwillkürliche, sich langsam abspielende, ausfahrende Bewegungen von Händen oder Füßen, die meist mit Gelenküberdehnung einhergehen - und gehören nicht zur Symptomatologie der Epilepsie.