Im Gespräch: Nevine aus Ägypten : Die Kraft, die sie spürt
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Nevine ist 25 Jahre alt und kommt aus Kairo. Sie glaubt, die meisten Ägypter würden am liebsten ihr Land verlassen. Bild: Valerie Assmann
Nevine ist 25 Jahre alt, in Kairo geboren. Fußball ist ihr Leben. Sie hat gegen Mubarak demonstriert und jetzt auch gegen Mursi. Im Gespräch zeigt sich, wie unzertrennlich Spiel und Revolution sind.
Nevine, darf ich Sie fragen, warum Sie ein Kopftuch tragen?
Es ist meine persönliche Freiheit. Meine Familie ist tolerant. Ich muss mich nicht verschleiern. Tatsächlich habe ich mich erst mit neunzehn Jahren dazu entschieden. Doch die Religion, ja vielmehr der Glaube, gibt vor, wie man auszusehen hat. Es ist mein Glaube, und der ist mir sehr wichtig.
Seit dem Sturz von Mubarak 2012 hatte die langjährige Oppositionspartei der Muslimbrüder und Salafisten eine Mehrheit in der verfassunggebenden Versammlung. Sie werden international kritisiert, weil sie unter anderem die Rechte der Frauen einschränken. Als Gläubige und Frau, wie stehen Sie zu den Muslimbrüdern, und was für eine Regierung erhoffen Sie sich als Nachfolger?
Die Muslimbrüder sind eine Terrorgruppe, sie haben mit dem Islam nichts gemein. Ihr einziges Mittel ist die Gewalt. Kürzlich war ich beim Training, plötzlich rief jemand, wir müssten schnell weg, die Anhänger der Muslimbrüder seien in den Straßen unterwegs. Dann bin ich in mein Auto gesprungen und los - und da waren sie plötzlich auf der Straße, mit Schlagstöcken bewaffnet, mindestens 600 Männer tauchten auf. Ich habe geschafft, zu wenden und wegzufahren. Und hatte Glück. Doch, das ist schrecklicher Alltag geworden. Das gab es früher nicht.
Werden in Kairo schon Stimmen laut, die sich nach der vergleichsweise geregelten Zeit unter dem Regime von Mubarak sehnen?
Sehr viele tun es. Ich habe es auch schon mal ausgesprochen. Aber nur in einem sehr schwachen Augenblick. Man muss ehrlich sein: Die Lage in Ägypten, bei jedem einzelnen Bürger, ist schlecht. Es wird offen gesagt: Fast alle wollen eigentlich nur noch raus aus dem Land. Das mag komisch klingen, aber der Alltag der jungen Leute leidet auch unter einer Art unbekannter Langeweile, weil die Unsicherheit draußen die Möglichkeiten begrenzt, uns in unseren Wohnungen verharren lässt. Unter Mubarak haben wir mit verbundenen Augen leben müssen. Wir waren der Willkür der Macht ausgeliefert. Jetzt sind wir auf eine neue Art eingesperrt.
Zurzeit ist das Land im Ausnahmezustand. Gerade in den letzten Tagen kamen wieder Meldungen von Toten bei Ausschreitungen. Würden Sie wieder auf die Straße gehen?
Ich war bisher immer dabei. Im Januar 2012 und auch am 30. Juni. Da gingen Millionen von Menschen in meiner Stadt auf die Straße. Und sie alle hatten ein gemeinsames Ziel, Mursi zu stürzen. Dieser Tag hat mein Leben verändert, weil er mir gezeigt hat, was möglich ist - auch für Frauen. 35 Millionen Unterschriften wurden gesammelt, eine Bewegung zum Leben erweckt, die die Unzufriedenheit der Menschen kanalisiert und ihnen zu ihrem Recht verhilft - ich war ein Teil davon.
Ägypten ist ja zurzeit ein islamischer Staat. Mursi ist demokratisch gewählt worden. Was für eine Staatsform wünschen Sie sich für das Land?
Wir haben alle die Wahlergebnisse akzeptiert. Ich habe gedacht, schauen wir doch mal, was er kann. Aber es passierte nichts. Nicht nach hundert Tagen, nicht nach einem Jahr. Er hatte eine ganz komische Art, sich über die Wünsche und Hoffnungen der Menschen lustig zu machen, sich darüber hinwegzusetzen. Diese Zeit war gar nicht gut für das Land. Ich bin gegen eine Verbindung von Staat und Religion. Meine Religion ist etwas Individuelles, man kann sie nicht allen Menschen vorschreiben.
Was passiert in dem Augenblick, wenn man sich entscheidet, gegen den eigenen Staat aufzustehen?
Es ist tatsächlich eine Kraft, die sich im Körper ausbreitet, das kenne ich sonst nur vom Fußball. Dann will man kämpfen für seine Rechte. Angst hatte ich kaum, nur einige Wochen 2011, als die Gewalt sehr schlimm wurde, da sind wir irgendwann zuhause geblieben, haben nur am Anfang demonstriert. Aber jetzt sind Mubarak und Mursi weg und mit ihnen alle, die mächtig waren. Besonders das Mubarak-Regime hat die wichtige Mittelschicht unserer Gesellschaft zerstört. Zu ihr gehört auch meine Familie, meine Mutter ist zum Beispiel Lehrerin. Jetzt muss sie sich erst langsam wieder finden.
Hat sich die Situation für die Frauen in den vergangenen Jahren verändert? Können Sie in dem Fußballoutfit, das Sie gerade tragen, über die Straßen von Ägypten laufen?
Nein, auf keinen Fall. Dann rufen sie: Was hast Du da an? Bist Du ein Junge? Deswegen habe ich mir jetzt ein Auto gekauft. Es ist ein Ort der Freiheit für mich. Denn der Frauenfußball wird von der Mehrzahl im Land abgelehnt. Ägypten ist ein Land der Tradition. Und die Wirkung des Fußballs für Frauen geht ja noch viel weiter. Er gibt Selbstbewusstsein und Kraft. Es ist schwer zu beschreiben, aber mein Team ist mein Leben, eine Art Familie, ich verbringe mit ihr mehr Zeit als mit meiner wirklichen. Und der Club ist mein Schutzraum.