70 Jahre „Das Glasperlenspiel“ : Warum nicht alles auserzählen?
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Er spottete mit der Figur Plinius Ziegenhalß in „Das Glasperlenspiel“ seiner selbst: Der Schriftsteller Hermann Hesse vor seinem Haus in Montagnola im Tessin Bild: picture alliance/KEYSTONE
Ein Meisterwerk der Abstraktion, ein Pendant zu Prousts „Recherche“ und ein magisches Theater in der Psyche des Autors: Was Hermann Hesses „Das Glasperlenspiel“ heute noch an Geheimnissen zu entbergen hat.
Als Thomas Mann 1938 nach Amerika übersiedelte, erklärte er „schlicht und recht“, wie sein Bruder das nannte: „Wo ich bin, ist die deutsche Kultur.“ Sein ferner Bruder oder doch Cousin im Geiste, Hermann Hesse, war zur selben Zeit, einige tausend Kilometer weiter östlich in jedem Sinne, bereits einen Schritt weiter. Denn obwohl er es bezeichnenderweise nicht tat, hätte er in mancherlei Hinsicht sagen können: Wo ich bin, ist die Kultur. Und zwar keineswegs nur die deutsche.
Seit der ersten Begegnung vor mehr als dreißig Jahren ist Das Glasperlenspiel derjenige von Hesses Romanen, der es mir am meisten angetan hat. Nicht nur kam er mir immer am geheimnisvollsten und inkommensurabelsten vor, ich habe ihn auch vom ersten Moment an als sinnlich anschauliche Lektüre geliebt.
Mit einem lateinischen Auftakt
Gerade diese Behauptung will gerechtfertigt sein, gilt doch Hesses letzter Roman gemeinhin als ein dünnes, blutleeres, unsinnliches Werk, als - wie es Joachim Kaiser in einer Kritik nannte - „Science Fiction der Innerlichkeit“. Und auch Kenner, Liebhaber und Verteidiger Hesses sind mit ihrem Latein am Ende, wenn es daran geht, die Perlen aufzufädeln.
Mit Latein beginnt indessen alles: „Nihil adeo necesse est ante hominum oculos proponere ut certas quasdam res ...“ - zu deutsch: „Nichts ist notwendiger den Menschen vor Augen zu stellen, als gewisse Dinge, deren Existenz weder beweisbar noch wahrscheinlich ist, welche aber eben dadurch, daß fromme und gewissenhafte Menschen sie gewissermaßen als seiende Dinge behandeln, dem Sein und der Möglichkeit des Geborenwerdens um einen Schritt näher geführt werden.“
Gezeichnet Albertus Secundus. Als fiktive Herausgeber und Übersetzer ins Lateinische nennt Hesse Clangor und Collofino. Halten wir uns kurz bei diesen Namen auf: Albertus Magnus, der große Kirchenlehrer und Wegbereiter der modernen Naturwissenschaft, ist somit einer der Stichwortgeber des Glasperlenspiels, weswegen dessen Erfinder Hesse sich hier als Albertus Secundus in die Nachfolge stellt. Clangor und Collofino waren, wie wir heute wissen, Franz Schall und Josef Feinhals, zwei von Hesses Lateiner-Freunden. Spielereien also und private Jokes gleich im Motto? Wir werden sehen, dass es sich um viel mehr handelt.
Auch ich habe mich, Lektüre um Lektüre, dem Kern dieses „Büchleins“ um ein weniges angenähert. Ohne dass dies je geplant gewesen wäre, habe ich das Glasperlenspiel etwa alle zehn Jahre wieder gelesen, das erste Mal mit zwanzig, das vierte Mal mit fünfzig und nun noch einmal, um zu versuchen, meine neuesten Erkenntnisse zusammenzufassen. Denn bei jeder neuen Lektüre habe ich neues in dem Roman gesehen, verstanden und entdeckt und durfte feststellen, was ich zuvor alles noch nicht verstanden und entdeckt hatte und dass dieses Buch tatsächlich ein unversieglicher Quell ist, der den Durst eines Zwanzigjährigen ebenso zu stillen mag wie den eines Fünfzigjährigen, ohne dass das Wasser je schal schmeckt.
Kritik von zeitloser Gültigkeit
Gleich bei der ersten Lektüre blieben mir die Passagen unvergesslich, in denen Hesse in wenigen Strichen eine Atmosphäre größter Sinnlichkeit beschwört, das Kapitel Berufung mit dem gemeinsamen Musizieren zwischen dem Knaben Knecht und dem Musikmeister oder auch das Ende mit der Reise ins Gebirge, dem Flötenspiel, dem See - hier kommen die proustischen Qualitäten Hesses in nuce zum Tragen. Für den Zwanzigjährigen leuchteten sie wie Blüten aus dem dunklen Dickicht der Konstruktion.