Ilias : Homers Geheimnis ist gelüftet
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Neuer Blick auf Homer Bild: Raoul Schrott
Über Homer wußte man bisher fast nichts. Jetzt hat der österreichische Schriftsteller Raoul Schrott die „Ilias“ neu übersetzt - und ist auf eine Sensation gestoßen. Wer Homer wirklich war, wo er lebte und warum der Schauplatz der „Ilias“ nicht Troia gewesen sein kann, erzählt er hier zum ersten Mal.
Homers Ilias übersetzen? Dieses über fünfzehntausend Verse umfassende Schlachtengemälde, das durch so viel deutschklassischen Firnis verdunkelt ist, dass man auf massive Entrüstungen stieße, wollte man es mit zeitgenössischen Farben restaurieren? Doch dann nahm ich die Auftragsarbeit des Hessischen Rundfunks trotzdem an, erbat mir aber - wie schon beim Gilgamesh - die gestrengsten Gräzisten als Korrekturleser.
Nach zwei Jahren täglichem Dienst an der Lanze eine erste Fassung einmal beendet und der Schwerthiebe des Lektorats harrend, fehlte nur noch ein Vorwort, um wieder meinen eigenen Streitwagen besteigen zu können. Das sollte so kurz wie gründlich ausfallen - worauf ich mich an die Recherchen dazu machte: und ein geschlagenes Jahr später immer noch am Schreibtisch saß.
Von Homer weiß man nur eines: nichts
Und das, obwohl man von Homer nur eines weiß: nämlich nichts. Einig ist sich die Fachwelt bloß, dass an den Jahrhunderte später entstandenen biographischen Legenden - denen zufolge er ein blinder Sänger war, der aus einer der griechischen Kolonien im Westen Kleinasiens stammte - ebenso wenig Wahres dran ist wie an den gewundenen Deutungsversuchen, die die Herkunft seines im alten Griechenland völlig untypischen Namens zu erklären suchten.
Und was weiß man über die Ilias? Etwas mehr, doch immer noch wenig. Es ist bekannt, dass sie in vielen Anspielungen auf die - leider nur mehr in Inhaltsangaben erhaltenen - Kypria Bezug nimmt, in denen die Vorgeschichte des Troianischen Krieges ausgebreitet wird: wobei ein breiterer Konsens darüber besteht, dass diese Erzählungen auf Zypern kursierende Stoffe wiedergaben. Zunehmend weniger umstritten ist ebenfalls, dass man es bei der Ilias bereits mit einem Text aus einem Guss zu tun hat (Tausende von Papyrusfunden zeigen keine Varianten, wie sie für eine lange Überlieferungszeit typisch sein würden) und aufgrund einer ganzen Reihe von Indizien die Niederschrift des Epos nun nicht mehr im achten Jahrhundert, sondern um 660 vor Christus angesetzt werden muss.
Homers Epos nicht wie einen Baedeker lesen
Dank der Bilanz des vor wenigen Jahren im Feuilleton der F.A.Z. ausgetragenen Streits um Troia kann inzwischen bei unserem Epos auch keine Rede mehr davon sein, dass sich darin ein Wissen um das historische Troia erhalten hätte, das zu Homers Zeit gänzlich bedeutungslos geworden war. Denn mit Ausnahme eines Königsnamens - Aleksandu - spiegelt sich von den dokumentierten Auseinandersetzungen zwischen Achaiern und Hethitern vor 1200 nichts in der Handlung des Epos wider: Letztere tauchen darin ebenso wenig auf, wie die Ausgrabungen in Troia Homers Beschreibungen davon bestätigen würden.
Obwohl Homer unzweifelhaft über die ungefähre Lage Troias Bescheid wusste, dürfe man sein Epos nicht wie einen Baedeker lesen, meinte einer der Archäologen, der mich liebenswürdigerweise auf diesem anderwärtig höchst aufschlussreichen Gelände herumführte. Das war noch milde formuliert: Der gemütlich runde Ida im Osten zum Beispiel hatte keine Ähnlichkeit mit jenem Gebirge, das die Ilias als Revier von Wildtieren mit vielen Gipfeln und vorgelagerten Tälern bezeichnet. Am schmalen Strand von Besike im Westen, dem archäologisch gesicherten Hafen Troias, ließen sich höchstens zwölf, niemals aber die 1200 griechischen Schiffe an Land ziehen und im Sumpf davor auch kein Wehrlager aufbauen - das das Epos zudem im Norden situiert. Das Rinnsal des Dümrek wiederum sollte der Bergfluss Simoeis sein, der alles mit Muren zuschüttet? Und das Bächlein des Karamendres jener reißend tiefe und wirbelnd breite Skamandros, den zu überqueren es einer heißumkämpften Furt bedurfte? Durch welche die Troer in ihre Stadt zurückgejagt werden - wo sie der gegebenen Topographie zufolge dabei bloß im Meer landen würden?