Bevölkerungsentwicklung : Land ohne Kinder
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Kinder kommen nicht von selbst, sie großzuziehen ist kein Zuckerschlecken Bild: dpa
Seit Jahrzehnten haben wir in Deutschland die niedrigste Geburtenrate der Welt. Dass die Jungen keine Lust auf Kinder haben, ist weder Zufall noch Ausdruck von Egoismus. Es liegt an den Alten.
An allen Ecken und Enden wird deutlich: Die Bevölkerung Deutschlands wird immer älter. Meine Generation - ich bin 1978 geboren - umfasst circa ein Viertel weniger Menschen als die Generation meiner Eltern. Schulen werden dicht-, Pflegeheime aufgemacht. Wenn nicht dagegen gesteuert wird, droht ein Rückgang der Wirtschaftsleistung, ein Versagen der sozialen Sicherungssysteme, Pflegenotstand, Altersarmut. Es wären die Auswirkungen einer seit 40 Jahren konstant niedrigen Geburtenrate, die über diesen langen Zeitraum hinweg in der Welt einzigartig ist.
Oft macht mich die Art und Weise, wie über die Gründe des demographischen Wandels gesprochen wird, unglaublich wütend, denn sie ist blind für soziale und politische Faktoren. Sie sucht die Ursachen ganz bequem beim Individuum. Dabei war die niedrige Geburtenrate noch nie ein Ausdruck egoistischer Akademikerinnen im Gebärstreik. Sie ist eine Gemeinschaftsfehlleistung von Eliten in Politik, Wirtschaft und Medien, die viel zu lange nicht wahrhaben wollten, das eine Generation herangewachsen ist, die in weiten Teilen andere Vorstellung von Familie, von Leben und Arbeiten hat, als sie selbst.
Wir sind weder faul, noch egoistisch. Die Welt hat sich gewandelt und wir mit ihr. Wir stehen vor einer anderen ökonomischen Situation, die Arbeitsverhältnisse sind unsicherer. Frauen und Männer sind ähnlich gut ausgebildet. Und wir haben andere Werte. Wir wollen Selbstbestimmung, Partnerschaften auf Augenhöhe. Beruf und Familie vereinbaren. Und das ist derzeit für die meisten immer noch unmöglich.
Mehr Gleichberechtigung, höhere Geburtenrate
Geschlechtergerechtigkeit gilt international mittlerweile als Schlüssel zu einer höheren Geburtenrate in Industrieländern, wie eine OECD-Studie aus dem Jahr 2013 belegt. Gesellschaftliche Werte, Familienpolitik und Geburtenraten der OECD-Länder wurden verglichen. Je eher Gleichberechtigung gelebt werden kann, desto höher die Geburtenrate. Für Deutschland fand das Bundesinstitut für Bevölkerungsforschung im selben Jahr heraus: Die heute 20- bis 39-jährigen sind zu mehr als 90 Prozent der Meinung, dass beide Elternteile für die Betreuung der Kinder verantwortlich sein sollen.
Die überwältigende Mehrheit - 84 Prozent aller Frauen und 77 Prozent aller Männer - findet auch, dass beide Elternteile das Familieneinkommen verdienen sollten. 60 Prozent aller Menschen in diesem Alter wünschen sich ein egalitäres Familienmodell, in dem die Bereiche Lohnarbeit und Kinderbetreuung gleichmäßig zwischen den Partnern aufgeteilt werden.
Das ist ein immenser Wertewandel in kurzer Zeit. In der Generation meiner Großeltern dominierte die Alleinverdiener-mit-Hausfrau-Ehe, ein romantisiertes bürgerliches Ideal, aus dem es kaum möglich war auszubrechen, ohne gesellschaftlich sanktioniert zu werden. Wer nicht verheiratet war, konnte keine Wohnung mieten, Ehemänner durften ihren Ehefrauen bis in die 1970er hinein verbieten, einer Erwerbsarbeit nachzugehen, wenn sie glaubten, dass Haushalt oder Kinder darunter leiden würden. Alles heute nicht mehr vorstellbar. Zum Glück.
Aus dieser Zeit stammt aber unser Grundgesetz, das allein die heterosexuelle Kleinfamilie als staatlich schützenswerte Form des Zusammenlebens ansieht. Und in diese Zeit wurden auch diejenigen hineingeboren, die nun an der Macht sind. Die sich schwertun mit dem Wandel der Familienstrukturen, auch wenn dieser eigentlich schon längst stattgefunden hat.
Der Wandel verläuft zu langsam
Adenauer glaubte: Kinder kriegen die Menschen von selbst. Die Generation Schröder war der Meinung: Wenn Frauen nicht von selbst Karriere machen, dann wollen sie es wohl nicht. Doch Adenauer konnte den Siegeszug der Pille nicht vorhersehen. Und Machtstrukturen, die Gleichberechtigung unterdrücken, schaffen sich nicht allein durch die Aufhebung diskriminierender Gesetze ab, sondern brauchen einen kulturellen Wandel. Aber dieser findet in Deutschland im Vergleich zu anderen Ländern nur sehr zögerlich statt, denn viel zu lange waren die Machthaber überzeugt, dass Familienpolitik Gedöns ist, und dass die Welt zusammenbricht, wenn Kinder nicht von Müttern, sondern von Erziehern betreut werden.
Viele Frauen und Männer, die in den letzten 20 Jahren erwachsen geworden sind, haben das beobachtet. Sie haben gemerkt, dass sie gleichberechtigt leben können, solange sie keine Kinder haben. Die Geburt ist der Moment, in dem sich eine Beziehung von einem egalitären zu einem klassischen Rollenmodell verschiebt, in dem Frauen zu Versorgerinnen und Männer zu Ernährern werden.
Nicht wenige Beziehungen, die sich auf Kinder eingelassen haben, scheitern an dieser Diskrepanz zwischen eigenen Werten und nicht daran angepasster Realität. Neulich war ich mit meinem dreijährigen Sohn auf einem Kindergeburtstag eingeladen. Acht Frauen Mitte 30 saßen da im Kreis. Die Gastgeberin und ich waren die Einzigen, die noch mit ihren Partnern zusammen waren.
Eine absurde Situation, die aber wirklich so passiert ist. Wir begannen zu überlegen, woran es liegen könnte. Der verblüffende Unterschied: Ich teile mir mit meinem Partner, Lohnerwerb, Kinderbetreuung und den Haushalt programmatisch 50/50. Die Gastgeberin macht es mit ihrer Partnerin ähnlich. Wir leben unsere Werte. Zufall, dass wir in unseren Beziehungen glücklich sind?
Ich glaube nicht. Die Frauen erklärten unisono, dass ihre Beziehung daran gescheitert sei, dass sie sich mit Kind alleingelassen fühlten. Man habe sich entfremdet, die Leben seien zu verschieden geworden. Sie alle wollten Beruf und Familien vereinbaren, doch es ging nicht. Erstaunlicherweise berichteten einige, dass sie sich seit der Trennung wohler fühlten: Nun seien die Regeln klarer, würden die Väter das Kind tageweise nehmen.
Fallstricke der Mutterschaft
Das gilt allerdings nicht für die Mehrheit der getrennt lebenden Eltern, die meisten sind Alleinerziehende. 1,7 Millionen. Auch das ist heutzutage keine Schande mehr, sondern ein Familienmodell. Und auch gerade diese Gruppe würde von einer besseren Vereinbarkeit von Beruf und Familie profitieren. Denn ihnen bleibt oft nichts übrig als Arbeitslosengeld II-Bezug. Sie gehören zu den am schwersten vermittelbaren Arbeitslosen.
Das alles wusste ich schon, bevor ich ein Kind bekam. Vielleicht, weil ich Feministin bin. Feministen beschäftigen sich seit mehr als 100 Jahren mit den Fallstricken der Mutterschaft und ich beschäftige mich seit 10 Jahren mit Feminismus. Ich habe den Übergang von kinderlos zu Elternschaft aktiv gestaltet, gemeinsam mit meinem Partner, mit den Möglichkeiten, die wir hatten. Mein Leben hat sich mit Kind zwar auch gewandelt - aber eben nicht radikal. Mein Kind liebt mich, seinen Vater und seine Tagesmutter. Ich liebe mein Kind, den Vater, die mir verbliebene Freiheit und die Sicherheit meines 35-Stunden-Jobs.
Die Medien führen allerdings lieber Brauchen-Wir-Noch-Feminismus-Debatten als feministische Debatten, deswegen scheint es mir oft, als hätte ich eine Art Geheimwissen. Wer irgendeine Talkshow zur Familienpolitik einschaltet, sucht zeitgemäße Elternvorbilder mit der Lupe. Immer wieder bekommen wir stattdessen die 40jährige Birgit Kelle vorgesetzt, die sich klar gegen Kinderbetreuung und für ein traditionelles Familienmodell positioniert.
Die Familie stirbt nicht aus, nur die Hegemonie eines Modells
Kelle darf leben, wie sie will, das ist keine Frage. Aber sie repräsentiert in meiner Generation eine absolute Minderheit, die durch ihre Dauerpräsenz auf dem Bildschirm künstlich aufgeblasen wird. Sie sitzt da, weil der durchschnittlich 60-jährige Zuschauer des öffentlich-rechtlichen Fernsehens seine Ansichten bestätigt will, nicht, weil sie etwas über die Wünsche junger Familien aussagt.
Es fehlt jedoch nicht nur an Vorbildern, sondern auch an Optimismus und kreativem Denken. Zwei Vätermonate und Betreuungsplätze für unter Dreijährige reichen bei weitem nicht aus. Was ist mit Ganztagsschulen, Home-Office, Job-Sharing für Führungskräfte, 32-Stunden-Woche, flexible Kinderbetreuung für Menschen mit Schichtdienst? Die Werkzeuge sind bekannt, zum Beispiel aus den OECD-Ländern mit höheren Geburtenraten.
Angewendet werden sie immer noch allzu zögerlich. Denn die über 50-Jährigen sind fast doppelt so viele, wie diejenigen, die heute Kinder bekommen können. Als Wähler beeinflussen sie die Politik, als Medienkonsumenten den Diskurs. Jedes Mal, wenn eine neue familienpolitische Maßnahme zur Vereinbarkeit lanciert wird, geht ein konservativer Aufschrei voraus, der das Ende der Familie verkündet. Dabei stirbt die Familie nicht aus, nur die Hegemonie eines einzigen Modells.
Medial vermittelter Fatalismus
Statt diese Realität anzuerkennen, schallt uns überall entgegen, dass Vereinbarkeit von Beruf und Familie nun mal nicht möglich sei. Kristina Schröder ist als Mutter nur noch Bundestagsabgeordnete und nicht mehr Ministerin? Vereinbarkeit geht nicht. Ich kann nicht gleichzeitig 12 Stunden am Tag für das Kind und 12 Stunden am Tag für den Chef da sein? Vereinbarkeit geht nicht.
Das Leben ist manchmal richtig stressig? Vereinbarkeit geht nicht. Der medial vermittelte Fatalismus, der uns Glauben macht, Kinder könnten nur in einer traditionellen Kleinfamilie glücklich aufwachsen, ist einer der Hauptgründe, warum Kinder von vielen nur noch als Problem gesehen werden. Nicht als Persönlichkeiten, die das Leben bereichern. Und so wird es bleiben, bis es nicht nur toleriert, sondern gerne gesehen wird, Kind und Beruf zu vereinbaren.
Ich muss gestehen: Im Endeffekt ist mir die Geburtenrate ja egal. Von wegen Aussterben der Deutschen und so. Stattdessen können wir auch das Renteneintrittsalter auf 75 erhöhen und mehr Arbeitsmigration zulassen, auch das sind Lösungen. Aber ich mag Kinder einfach sehr. Und deswegen sollte es allen, die welche wollen, so einfach wie möglich gemacht werden, sie zu bekommen. Denn in einer kinderarmen Gesellschaft alt zu werden, das finde ich wirklich sehr traurig.