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Berliner Namensstreit : Rettet Glinka!

  • -Aktualisiert am

Porträtrelief von Michail Iwanowitsch Glinka in der Berliner Glinkastraße Bild: Picture-Alliance

Im Namensstreit um den U-Bahnhof Mohrenstraße in Berlin wird jetzt der Komponist Michail Iwanowitsch Glinka zur Zielscheibe von Vorwürfen. Dabei fragt man sich, ob die Beteiligten noch wissen, wovon sie reden.

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          Der Streit um die Umbenennung der Berliner U-BahnStation Mohrenstraße in Glinkastraße – von den Berliner Verkehrsbetrieben vorgeschlagen, vom Senat wieder verworfen – wird immer absurder, frecher und schmutziger. Ein großrussischer Nationalist sei Glinka gewesen, liest man jetzt, und ein Antisemit auch. Und weil die DDR die Kanonierstraße in Berlin 1951 umbenannte in Glinkastraße, wird Glinka in einem Tweet der CDU-Politikerin Karin Prien obendrein zu einem „antisemitischen Kommunisten“. Wissen die Beteiligten eigentlich, wovon sie reden? Glinka starb 1857 in Berlin, im Haus Französische Straße 8, Ecke Kanonierstraße. Diese Straße nach ihm zu benennen, lag also historisch nahe.

          Glinka schrieb zwar mit „Ein Leben für den Zaren“ eine Historienoper über die Entstehung der Romanow-Dynastie, aber die Historienoper war ein Genre des neunzehnten Jahrhunderts. Ist auch Verdi ein großitalienischer, austrophober Nationalist? Glinka verbrachte die meiste Zeit seines Lebens in Warschau, Paris, Berlin, Italien und bereiste, auf einem Esel reitend, Spanien. Er schrieb Variationen über das spanische Lied „Jota Aragonesa“, über Opernthemen von Donizetti, Bellini und Cherubini, die bester instrumentaler Belcanto sind, und er verehrte Mozart und Bach. Mit Adam Mickiewicz und Maria Szymanowska – ihm wird jetzt auch Polenfeindlichkeit nachgesagt – war er befreundet.

          Sicher gibt es in seinen Briefen antisemitische Äußerungen, genau wie es sie in den Briefen Beethovens und Schumanns gibt. Auch Felix Mendelssohn Bartholdy, aus jüdischer Familie stammend, verwendet in seinen Urteilen über Giacomo Meyerbeer, ebenfalls aus jüdischer Familie stammend, die gleichen antisemitischen Stereotypen (Kälte, Ehrgeiz, Mangel an Innerlichkeit) wie der dafür notorische Richard Wagner. Dass Glinka, der Meyerbeer immer nur „liebenswürdig“ nennt, sich wie Wagner oder Mussorgski jemals den Tod oder die Vertreibung von Juden gewünscht hätte, ist nicht bekannt. Für eine Gesangsschülerin jüdischer Herkunft schrieb er in Berlin eine vokale Etüde, die als „Hebräisches Lied“ in seiner Schauspielmusik zu „Fürst Cholmski“ wieder auftaucht.

          Ein kürzlich publizierter Kommentar in der „Jüdischen Allgemeinen“, der den Senat offenbar zum Einknicken bewogen hat, enthält gar die Behauptung, Glinka habe Anton Rubinsteins Russische Musikalische Gesellschaft als „Zhid-Verein“ (Judenverein*) und das Petersburger Konservatorium als „Piano-Synagoge“ diffamiert. Wie, bitte, soll Glinka das getan haben? Die Gesellschaft wurde 1859, das Konservatorium 1862 gegründet. Da war Glinka längst tot.

          Jan Brachmann
          Redakteur im Feuilleton.

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