70. Berlinale : Ein (politisches) Zeichen
- -Aktualisiert am
„Stolz wie Oskar“ präsentiert die Schauspielerin Paula Beer ihren silbernen Bären. Bild: AP
Nicht mutig, aber richtig waren die meisten Entscheidungen der Berlinale-Jury. Die Auszeichnung für den besten Film geht wieder an Iran – Paula Beer erhält den Bären für ihre Rolle in „Undine“. Nur mit einer Auswahl taten die Juroren einem Künstler keinen Gefallen.
Im Schatten des rechtsradikalen Terrorakts von Hanau hatte die 70. Berlinale vor zehn Tagen begonnen, im Zeichen einer drohenden Pandemie ging sie am Samstagabend mit der Gala zur Verleihung der Preise zu Ende. Zum düsteren Hintergrund durchaus passend, verlieh die internationale Jury unter dem Vorsitz des britischen Schauspielers Jeremy Irons den Goldenen Bären an den iranischen Film „Sheytan vojud nadarad (There Is No Evil)“ von Mohammad Rasoulof.
Rasoulof selbst konnte den Preis nicht entgegennehmen, das Mullah-Regime hat seit 2017 seinen Pass eingezogen und verweigert ihm seither die Rückgabe für Auslandsreisen. Zugleich wartet eine einjährige Gefängnisstrafe auf den Regisseur, deren Vollzug ungewiss ist. „Es gibt kein Böses“ erzählt in vier locker miteinander verknüpften Geschichten von Menschen, die individuelle Freiheit in einem despotischen Regime zu behaupten versuchen. Neue Freunde im iranischen Apparat wird sich Rasoulof mit diesem Film nicht machen.
Aber vielleicht bietet die internationale Öffentlichkeit, die ein solcher Preis bedeutet, auch einen gewissen Schutz gegen noch größere Zumutungen. Diese Entscheidung ist allerdings nicht nur ein politisches Zeichen; sie ist, wie der Goldene Bär für den Iraner Jafar Panahi im Jahr 2015 für seinen Film „Taxi Teheran“, zugleich eine künstlerisch gut begründbare Wahl, weil eben nicht nur eine eindeutige politische Haltung prämiiert wird, sondern die Form, in der diese Haltung ästhetisch zum Ausdruck kommt.
Traumwandlerische Sicherheit
Den großen Preis der Jury gewann ein Film, der unter andere Umständen womöglich (und auch verdientermaßen) einen Goldenen Bären erhalten hätte. Eliza Hittmans „Never Rarely Sometimes Always“ erzählt von einer Siebzehnjährigen, die mit ihrer Cousine nach New York fährt, weil man mit 17 Jahren in Pennsylvania nicht ohne Einverständnis der Eltern abtreiben darf. Der Film begleitet die junge Autumn auf ihrem Weg wie eine gute Freundin. Es wir nicht viel geredet und moralisiert, sondern ruhig und mit viel Empathie einfach gezeigt.
Auch gegen die Preise für die besten Darsteller ist nichts einzuwenden – außer dass hier die Entscheidungen vermutlich noch hauchdünner und schwieriger waren als in den anderen Kategorien. Paula Beer erhielt einen silbernen Bären für ihre Rolle in Christian Petzolds Film „Undine“, ein modernes Märchen, in dem sie einen zum Menschen gewordenen Wassergeist spielt, der verdammt ist, den Mann zu töten, der sie verlässt. Die Balance zwischen mythischer Nymphe und moderner junger Frau, die als Stadtführerin in Berlin arbeitet, gelingt Paula Beer mit traumwandlerischer Sicherheit.
Der Italiener Elio Germano wurde zwar für seine Rolle in „Volevo nascondermi“ („Ich wollte mich verstecken“) ausgezeichnet, für sein Spiel als gequälter, getriebener, psychisch und physisch schwer gezeichneter Künstler Antonio Ligabue – aber vermutlich ebenso sehr für seine Wandlungsfähigkeit, weil er in dem Film „Favolacce“ („Bad Tales“) von den Brüdern Fabio und Damiano D’Innocenzo einen Familienvater in einer toxischen Vorstadtidylle spielt, der nachts in einem Anfall von ungezügelter Wut den aufblasbaren Pool im Garten zerstört.
Die italienischen Zwillinge erhielten für ihren Film einen silbernen Bären für das beste Drehbuch, was einem als akzeptable Verlegenheitslösung vorkommt, da der Film weniger von seinem Buch als von seinen Schauspielern und seiner Inszenierung lebt.
Erzählerischer Minimalismus
Leicht deplatziert, ohne komplett daneben zu sein, war dann auch der silberne Bär für die beste Regie, den der Südkoreaner Hong Sangsoo erhielt. „Die Frau, die rannte“ („Domangchin yeoja“) gehörte mit seinem erzählerischen Minimalimus sicher zu den bemerkenswerten Arbeiten im Wettbewerb – aber ob das nicht eher der Chemie zwischen den Schauspielern zu verdanken war, bleibt eine offene Frage. Aber jede Jury hat halt nur eine Handvoll Preise, die sie vergeben darf, und lässt deshalb meist die Gießkanne kreisen.
Eher verschwendet waren der Preis für die belgische Komödie „Delete History“ („Effacer l'historique“), die den „Silbernen Bären – 70. Berlinale“ erhielt. Eine einigermaßen schrille Satire über Internet und Konsumterror, in der mit voller Wucht offene Türen eingerannt wurden. Vollends ärgerlich, wenn auch technisch vertretbar, war der Silberne Bär für eine „herausragende künstlerische Leistung“, der an den Kameramann Jürgen Jürges fiel für seine Arbeit in dem Film „Dau Natasha“, jenem Produkt aus Ilya Krschanowsky stalinistischen Themenpark, das mit einem unreflektierten, diffusen Begriff von Authentizität nacheinander Humanität und Kunst gleichermaßen massakriert. Diesen Preis hätte die Jury sich, uns und vor allem Jürgen Jürges, der so viele großartige Filme gedreht hat, besser erspart.
Der Alfred-Bauer-Preis, laut Ausschreibung einem Film gewidmet, „der neue Perspektiven der Filmkunst eröffnet“, war in diesem Jahr ausgesetzt worden, nachdem die Wochenzeitung „Die Zeit“ kurz vor Festivalbeginn Bauers von ihm geschickt verschleierte Aktivitäten in der Reichsfilmintendanz des nationalsozialistischen Regimes aufgedeckt hatte. Eine Publikation der Deutschen Kinemathek über Alfred Bauer war zurückgezogen worden, weil sie ganz offenkundig keine neue Perspektiven auf den Gründungsdirektor der Berlinale hatte eröffnen mögen.
Nicht lang hadern
Die Festivalleitung hat inzwischen mit einer umfassenden Klärung von Bauers Rolle im Nazi-Apparat das renommierte Münchener Institut für Zeitgeschichte beauftragt. Ob der Preis unter anderem Namen im nächsten Jahr wieder verliehen werden soll, wird sich zeigen.
Mit Juryentscheidungen sollte man im Übrigen nicht lange hadern, man könnte sonst auch das Wetter dafür kritisieren, dass es so ist, wie es ist. Die angeblichen Favoriten auf die Bären, in deren Namen oft nur eine ganz andere Preisverteilung eingefordert wird, hatte es ja nicht wirklich gegeben. Es sei denn als persönliche Vorliebe, die ein Kollege oder eine Kollegin in seinem/ihrem Medium bekanntgegeben hat und die noch drei bis vier Leute, die er/sie kennt, teilen. In aller Regel bleiben die Ratschlüsse der Jurys unerforschlich. Und man ist froh, wenn sie, wie in diesem Jahr, eine Entscheidung trifft, die zwar nicht mutig ist, aber richtig.
Für ein Urteil, wie sich die neue Doppelspitze Mariette Rissenbeek und Carlo Chatrian bei ihrer ersten Berlinale geschlagen hat, ist das auch völlig unerheblich. Wie oft hat bei Festivals mit einem starken Programm denn nicht schon der „falsche“ Film gewonnen? Sicher häufiger, als man sich erinnern möchte. Rissenbeek und Chatrian haben mit dieser 70. Berlinale ein Zeichen gesetzt: Dieses Festival bewegt sich doch. Und es wäre zu wünschen, dass sie sich damit noch nicht zufriedengeben.