Archivierung des Internets : Am Boulevard der toten Links
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Das Internet archivieren? Warum nicht gleich die Milchstraße in Geschenkpapier packen? Hatte die Gutenberg-Welt ihre festen Rhythmen, so ist das Digitale eine Kultur permanenten Überschreibens, die jeden archivarischen Schnitt zufällig oder unmöglich macht. Der Wikipedia-Artikel zum Irak-Krieg hat mehrere tausend Versionen und wird vielleicht gerade wieder überarbeitet. Soll man ihn um 12 oder um 15 Uhr, am Mittwoch oder am Freitag speichern, im Februar oder im April?
Die Frage, was vom Netz bleiben soll, beantwortete bisher der neue Universalismus der Netzkultur, der sich aus einem positivistischen Aufklärungsverständnis, dem quantitativen Denken der Informatik und den schieren Rechenkapazitäten fast wie von selbst ergibt. Wissen heißt hier anhäufen. Man speichert zunächst einmal, was die Technik hergibt. Weil sie die Aufzeichnung des Lebens bis in den Pulsschlag beim Joggen erlaubt und die Digitalkultur dem Augenblick so wenig traut, dass sie an seinem Abbild wie an einer Droge klebt, ist das sehr viel. Würden viele ihre digitalen Archive komplett anschauen, hätten sie die nächsten Jahrzehnte nichts anderes zu tun. Die Gegenwartserfahrung droht so in einem Dokumentarismus des jüngst Vergangenen zu versinken oder auf eine Zukunft verschoben zu werden, die nie stattfinden wird.
Künftige Historiker werden vor einem Meer von Quellen stehen, aber auch vor gewaltigen Lücken. Man spricht mit Blick auf die ersten digitalen Jahrzehnte vom digital dark age. Abspielgeräte veralten und werden ausgetauscht, Daten gehen verloren. Während sich die Gesamtmenge von Jahr zu Jahr verdoppelt, laufen die Projekte zur Langzeitarchivierung erst langsam an. Vieles wird nicht mehr gedruckt, aber auch noch nicht gespeichert. Welches Speichermedium nimmt sich etwa der Hyperfiction an, einer Form kollaborativer Literatur im Internet, die sich über verschiedene Datenträger ausbreiten kann? Was ist mit den virtuellen Kunstobjekten, deren Exitus Kunsthistoriker beklagen, weil niemand sich um ihre Speicherung kümmert? Nicht jeder Chat wird fehlen. Oft korrigiert der Schwund auch einen Speicherfetisch.
Das Archiv als Schnappschuss
Es gibt in Deutschland einen Adressaten für diesen Totalitätswahn: die Deutsche Nationalbibliothek in Frankfurt. Der Kultusminister erteilte ihr vor sechs Jahren den Sammelauftrag für elektronische Publikationen. Seither zerbricht man sich in Frankfurt den Kopf über die Frage, wie die fließende Architektur des Netzes sinnvoll zum Stocken zu bringen ist. Die holistische Vorgabe war noch ganz nach den Bedingungen der Buchkultur gedacht. Was mehr als vier Seiten und 25 Exemplare zählt, nahm automatisch seinen Weg ins Archiv. Bei den elektronischen Medien heißt Speicherung dagegen auch Kanonisierung. Die Bestände wachsen exponentiell, redaktionelle Filter fallen weg. Man sollte meinen, an der Nationalbibliothek brüteten vielköpfige Expertenkomitees von früh bis spät über Selektionskriterien. Tatsächlich ist es der Nebenjob eines kleinen Teams von Bibliothekaren. An ein Expertengremium, wie es die British Library eingerichtet hat, ist jetzt noch nicht zu denken.