
Archäologie am Gletscher : Was das Eis erzählt
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Das Basiscamp der Archäologen unterhalb vom Rest des Gletschers Bild: secretsoftheice.com
Ob in den Alpen oder Norwegens Bergen: Im Klimawandel kommen Relikte der Vergangenheit aus dem ewigen Eis zum Vorschein - zum Nutzen unserer Phantasie.
Früh aufstehen am Morgen, als allererstes in die Kirche zu Gebet und Psalmen, dann die Geschäfte bis zum Mittag treiben, danach ausruhen und schließlich ein Gang durch die Gemeinde, um von den neuangekommenen Kollegen zu erfahren, wie die Dinge in der Fremde stehen – so beschreibt im altnorwegischen „Königsspiegel“, der um 1250 verfasst wurde, ein Vater seinem Sohn den idealen Tagesablauf eines Kaufmanns in der nordischen Welt.
Selbstverständlich muss man dafür auch eigenhändig auf die Reise gehen, und am Ende, so der Vater, winkt ein derart reicher Handelsgewinn, dass man sich zurücklehnen, Grundbesitz erwerben und anderen die großen Fahrten überlassen kann. Ob der Sohn sich dieser so schmackhaft gemachten Kaufmannslaufbahn widmen wird, darüber schweigt sich der „Königsspiegel“, der jüngst in einer schmucken Ausgabe neu erschienen ist, aus, denn das große Welterklärungsbuch bringt dem jungen Mann noch so viel andere Berufe und Länder nahe, dass ihm die Entscheidung schwergefallen sein dürfte.
„Ötzi“ und Konsorten
Knapp achthundert Jahre später aber erlaubt eine rapide im Wandel begriffene Welt uns Nachgeborenen plötzlich den Blick auf die Realität solcher und anderer Reisen. Denn das schmelzende Eis gibt seit Jahren überall dort, wo einmal Gletscher waren, die verborgenen Hinterlassenschaften derer frei, die sich einst im frostigen Gelände bewegten. Darunter hat es der jungsteinzeitliche „Ötzi“ zu Weltruhm gebracht und die weit frischere Geschichte von dem jungen Mann aus Osttirol, der 1949 plötzlich verschwand, während seine schwangere Freundin zurückblieb – 2003 gab das Eis seine Leiche frei, in seiner Tasche fand sich ein Verlobungsring.
Auch in Norwegen kommen im Gebiet der im Klimawandel schmelzenden Gletscher die interessantesten Gegenstände zum Vorschein, was wahrlich kein Trost ist, aber immerhin die archäologische Forschung weiterbringt. Der Lendbreen-Pass im Jotunheimen-Gebirge, dem höchsten Gebirge Skandinaviens, entpuppte sich in diesem Sinne als Fundgrube: Untersucht seit neun Jahren, kamen mehr als tausend Artefakte von der Römerzeit bis zum hohen Mittelalter ans Licht, darunter Kleidung, Tierknochen, Skier und Schneeschuhe, allesamt prächtig konserviert in den einst darüber gewachsenen Eisschichten.
Dass der Weg mit dem Ende der Wikingerzeit offenbar aufgegeben wurde, führen die beteiligten Forscher auf die sogenannte Kleine Eiszeit des Spätmittelalters zurück, vielleicht auch auf eine der damals grassierenden Pestepidemien. Was einen aber so ergreift beim Anblick der Funde, ist die Anmutung von historischer Alltäglichkeit, von selbstverständlich genutzten und dann zurückgelassenen Dingen, eine Holzschachtel, Hufeisen – oder auch Pferdedung und die Überreste eines Hundes samt Halsband, der seinen Herrn einst auf der Reise begleitete, nicht mehr weiter konnte und sich an den Wegrand zum Sterben hinlegte. Und dann fiel der Schnee.
