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Analphabetismus in Deutschland : Durchgereicht und weggelogen

Schreibkurs: Mehr als 7,5 Millionen Menschen in Deutschland sind funktionale Analphabeten

Schreibkurs: Mehr als 7,5 Millionen Menschen in Deutschland sind funktionale Analphabeten Bild: dpa

Eine deutsche Schande: Siebeneinhalb Millionen Analphabeten leben unter uns. Wenn sich daran nichts ändert, wird die „Bildungsrepublik“ zum Entwicklungsland.

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          Der junge Mann kann sein Problem gut und knapp beschreiben: Er kann nicht richtig, eigentlich fast gar nicht lesen und schreiben. Er wisse das schon lange, seine Lehrer habe das nie sonderlich interessiert, er fiel nicht auf, weil er ein freundliches Wesen hat, und bekam schließlich den Hauptschulabschluss. Wie, kann er nicht erklären. Vielleicht aus Mitleid, vielleicht aber auch, weil man ihn loswerden wollte, weiterreichen an die nächste Institution, die Wissen fürs Leben vermitteln soll. Als Kind hatte ihn der Vater immer wieder in Therapien untergebracht, ohne nennenswerte Ergebnisse, bis die Krankenkassen weitere Hilfen verweigerten. Dass ihn schließlich sein Berufsschullehrer zu einem Alphabetisierungskurs des Arbeitskreises Orientierungs- und Bildungshilfe (AOB) nach Berlin-Kreuzberg schickte, ist erstaunlich.

          Regina Mönch
          Freie Autorin im Feuilleton.

          Das sei, sagt Ute Jaehn-Niesert, tatsächlich die Ausnahme. Mit ihrem Verein betreut sie seit Jahrzehnten junge und ältere Menschen mit ähnlich enormen Defiziten trotz des pflichtgemäßen Schulbesuchs; bevor sich ernsthafte Erfolge einstellen, vergehen oft Jahre. Neben der Alphabetisierung bietet der AOB zudem, was einzigartig ist, eine spezielle Psychotherapie an, denn der Schritt hierher ist schwer für erwachsene Menschen und nicht selten der verzweifelte Versuch, aus einer existentiellen Lebenskrise herauszufinden. Ute Jaehn-Niesert hatte vor Jahren noch eine zweite Therapeutin an ihrer Seite, doch dafür fehlt inzwischen das Geld, obwohl auch in Berlin sehr viel mehr Analphabeten leben, als lange angenommen wurde.

          Warum aber nur wenige Lehrer diese Hilfe überhaupt empfehlen, ja nicht einmal anderswo Alarm schlagen, wenn ihre Schüler das minimalste Schulziel offensichtlich verfehlen, gehört in die Grauzonen eines ehrgeizigen Bildungssystems, das seinen Fokus auf Abitur, Universität und Hochqualifizierte gerichtet hat. Dabei zeigen Schulleistungstests immer wieder: Etwa jeder fünfte Fünfzehnjährige gehört in diese Risikogruppe.

          Eine „Maßnahme“ geht immer

          Es gibt sicher auch Lehrer, die daran verzweifeln, weil sie durchaus versucht haben, auf diese Probleme aufmerksam zu machen. Doch Schulbehörden belohnen solche Warnungen nicht, im Gegenteil, es gilt schnell als Versagen der Schulen, also wird vertuscht und geschwiegen - mit verheerenden Folgen für das weitere Leben der anonymen Analphabeten. Unter den sechzig- bis siebzigtausend Jugendlichen, die jedes Jahr deutsche Schulen ohne Abschluss verlassen, befinden sich Zehntausende auf dem direkten Weg in den funktionalen Analphabetismus.

          Ihre rudimentären Kenntnisse im Lesen, Schreiben und meist auch im Rechnen werden weiter verkümmern, weil sie zwar von einem gut ausgestatteten sozialen Netz aufgefangen werden, das sich jedoch nur sehr selten um diese grundlegenden Fähigkeiten kümmert. Seit Jahrzehnten wird die Verantwortung für Analphabeten zwischen Berufsbildung und Schulsystem hin und her gereicht und irgendwo dazwischen begraben. Neben wenigen Vereinen wie dem Berliner AOB sind es vor allem unsere Volkshochschulen, die Erwachsenen das Lesen und Schreiben beibringen. Doch können sie nur wenige dieser Kurse anbieten. Auch darum ist Analphabetismus so weit verbreitet in unserem Land, das Politiker gern als „Bildungsrepublik“ feiern, weil das Unvermögen von Millionen Bürgern zwar ein Skandal ist, doch keiner, der Schlagzeilen macht.

          Die Hoffnung, Deutschland wachrütteln zu können, trügt

          Hierzulande ist es durchaus möglich, ohne ausreichend lesen und schreiben zu können einen Computerkurs, bezahlt vom Arbeitsamt, zu besuchen - einen Kurs, eine sogenannte „Maßnahme“, der wie viele seiner Art jede Menge zweifelhafter Arbeitsplätze, nämlich die der Veranstalter, sichern hilft. Nur gehen diese Teilnehmer leer aus, sieht man von einem an sich wertlosen Zertifikat ab, das ihnen kaum zu Arbeit verhelfen wird, weil sie ja doch nur einzelne Wörter tippen können.

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