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Integrationsvorbild : Es geht um Bildung, Dummkopf!

Blick in den monumentalen Innenhof der Library of Congress Bild: Hubert Spiegel

Amerika denkt nicht nur an die Wirtschaft und transformiert seine Bibliotheken zu Integrationsmaschinen des 21. Jahrhunderts. Eine Reise nach Washington, Cleveland und New York.

          5 Min.

          Bibliotheken sind altmodische Einrichtungen, in denen die Zukunft entschieden wird. Die Bibliothek ist der Ort, an dem einige der wichtigsten Fragen unserer Gesellschaften verhandelt werden: Wie organisieren wir den Zugang zu Informationen für alle Bürger? Wie bewahren wir unser kulturelles Erbe? Wie erreichen wir den Teil der Bevölkerung, der in unserem traditionellen Bildungssystem gescheitert ist oder nie Zugang zu ihm fand? Die Bibliothek des 21. Jahrhunderts ist all dies: hochspezialisierte Hightech-Apparatur, kuschelweiche Kita für Erwachsene und robuste Kampfmaschine für Integration und gegen soziale Benachteiligung.

          Hubert Spiegel
          Redakteur im Feuilleton.

          Wenn Lee Rainie vom unabhängigen Think Tank „Pew Research Center“ in Washington recht hat, ist die Berufsbezeichnung Bibliothekar fast schon überholt: „Das Bibliothekswesen verändert sich gerade. Das führt teilweise zu Spannungen. Manche Bibliothekarin nimmt die neuen Herausforderungen begeistert an, andere sind verunsichert oder schotten sich ab. Vielleicht brauchen wir tatsächlich einen neuen Namen für diesen Beruf. Er sollte zum Ausdruck bringen, dass Wissen wichtig ist - für jeden Menschen und ganz gleich, in welchem Medium es ihm zugänglich gemacht wird.“

          „Community Deficit Fighter“

          Cindy Lombardo von der Cleveland Public Library hat die neue Berufsbezeichnung für sich und ihre Kollegen längst gefunden: Sie versteht sich als „Community Deficit Fighter“, als Kämpferin gegen das Versagen der Kommune und die Unzulänglichkeiten der öffentlichen Versorgung. Wo sich eine Lücke auftut, bemühen sich die Bibliothekarinnen, sie zu schließen. Weil Teile von Cleveland, der ehemaligen Industriestadt im „Rust Belt“, als „food deserts“ gelten, in denen Kinder und Erwachsene nicht hinreichend mit frischen Lebensmitteln versorgt werden, geben Clevelands öffentliche Bibliotheken außer Büchern, Filmen und Computerspielen auch Mahlzeiten aus: etwa zwanzigtausend waren es im Jahr 2011. In einer Stadt, in der 36 Prozent der Kinder in Armut aufwachsen und in manchen Stadtteilen mehr als fünfzig Prozent der Erwachsenen arbeitslos sind, ist die Bibliothek zu einem Ort der elementaren Lebenshilfe geworden.

          Wenn in diesen Tagen etwa dreitausend Bibliotheksvertreter aus dreißig Ländern in Leipzig zusammenkommen, sind die Vereinigten Staaten erstmals als Gastland mit dabei. Die American Library Association, der älteste und mit etwa 60 000 Mitgliedern größte Bibliotheksverband der Welt, schickt zahlreiche Vertreter nach Leipzig. Sie kommen von der Library of Congress, der größten Bibliothek der Welt, von der New York Public Library mit ihren neunzig Zweigstellen oder der Washingtoner Gelman University Library, deren Direktorin Geneva Henry seit neun Monaten im Amt ist und ihr Haus zu einer der führenden amerikanischen Universitätsbibliotheken im 21. Jahrhundert machen möchte. Das e-Book ist für die Informatikerin wie für die meisten ihrer Kollegen nur ein Thema unter vielen. Es spart Platz und hat einen neuen Typus von Bibliotheksnutzern erschaffen, wirft aber auch Probleme auf: „Ich mache mir zunehmend Sorgen um die Frage des Energiebedarfs. All unsere Geräte brauchen immer mehr Strom. Wie will unsere Gesellschaft im Fall einer akuten Energiekrise den Zugang zu Informationen gewährleisten?“

          Beliebter Rückzugsort für Jugendliche: die Cuyahoga County Public Library
          Beliebter Rückzugsort für Jugendliche: die Cuyahoga County Public Library : Bild: Hubert Spiegel

          Zugang zu Informationen für jedermann, das ist das oberste Gebot der amerikanischen Bibliothekare. Alan S. Inouye ist Chef des Office for Information Technology Policy, das die ALA in Washington unterhält. Inouye, ein förmlicher Mann, der lange nachdenkt, bevor er etwas sagt, ist eine Art Cheflobbyist der ALA, der Einfluss auf die Regierung und Parteien zu nehmen versucht, etwa in Fragen des Datenschutzes, den amerikanische Bibliothekare ausgesprochen rigoros handhaben. Auch er sieht das Bibliothekswesen in einer Phase des Umbruchs: „Fast alle, die in der Wissens- und Informationsbranche arbeiten, stehen derzeit revolutionären Veränderungen gegenüber. Aber es gibt einen Unterschied: Alle anderen Player auf diesem Feld wollen Geld verdienen. Unsere Aufgabe besteht ausschließlich darin, den Leuten zu helfen.“

          Zum Abschied überreicht Inouye seinen Besuchern eine Broschüre, mit der die ALA auf die vorläufigen Ergebnisse des „Children’s Internet Protection Act“ zurückblickt. Das Gesetz, das erlassen wurde, um Kinder vor pornographischem Material im Internet zu schützen, betrifft auch die Bibliotheken: Sechzig Millionen Amerikaner haben weder einen häuslichen Internetanschluss, noch besitzen sie ein Smartphone. Für viele von ihnen bietet die öffentliche Bibliothek den einzigen Zugang zum Internet, den sie regelmäßig nutzen können.

          Sechs e-Books pro Sekunde

          Einer der Player, die Inouye gemeint haben könnte, ist die Firma OverDrive. Der Software-Spezialist arbeitet mit mehr als dreißigtausend Bibliotheken in den Vereinigten Staaten und in Kanada zusammen. Damit deckt er neunzig Prozent des Marktes ab. OverDrive verkauft e-Books an Bibliotheken und liefert die nötige Software gleich mit. Im Eingangsbereich des Unternehmenssitzes tickt eine Zähluhr. Sie zeigt an, wie viele e-Books gerade über OverDrive ausgeliehen werden: Im Durchschnitt sind es sechs pro Sekunde. Die Gesamtzahl für das Jahr 2015 beläuft sich auf etwa 170 Millionen Ausleihen. Auch OverDrive kommt zum Bibliothekskongress nach Leipzig: Man hat den europäischen Markt ins Auge gefasst und deshalb die Zahl der deutschsprachigen Titel innerhalb der letzten zwölf Monate von fünftausend auf etwa 100 000 Titel erhöht. Auf die Frage, welche Vorteile die Bibliotheken von der nicht gerade billigen Rundum-Versorgung durch OverDrive haben, erhält der Besucher eine Antwort, in der sich die Arroganz des Marktführers niederschlägt: Nun, die Bibliotheken müssten künftig ihre Dächer nicht mehr reparieren, wenn sie undicht sind.

          Als der Wirbelsturm Sandy 2012 zeitweise bis zu 250 000 New Yorker von der Stromversorgung abschnitt, gehörten die Bibliotheken in Queens zu den ersten Anlaufstellen der Hilfesuchenden. In Queens, flächenmäßig der größte der fünf New Yorker Stadtbezirke, leben etwa zweieinhalb Millionen Menschen aus mehr als hundert Staaten, die 160 verschiedene Sprachen sprechen. „Was Queens so stark macht“, sagt Nick Buron, Vice President der Queens Library, „ist seine unglaubliche Vielfalt. Hier dominiert nicht eine Gruppe oder Ethnie, hier dominiert der Unterschied. Hier lernst du, Unterschiede zu akzeptieren.“

          Die Queens Library mit ihren gut sechzig Filialen war die erste amerikanische Bibliothek, die einen Service für Einwanderer anbot. Das 1977 gegründete „New Americans Program“ umfasst Sprach- und Konversationskurse und gibt Hilfestellung beim Einbürgerungsverfahren. Weniger als die Hälfte der Bibliotheksbenutzer spricht zu Hause Englisch. Die Bibliothek hat sich längst darauf eingestellt: Ihr Personal ist kaum weniger multi-ethnisch als ihre Klientel. Buron und seine Kollegen legen größten Wert darauf, dass die Bibliotheksmitarbeiter ständig geschult werden. Der Sohn eines belgischen Einwanderers, der vor mehr als zwanzig Jahren als junger Bibliothekar nach Queens kam, weiß, wie schwierig es sein kann, mit aufgedrehten Jugendlichen, Obdachlosen, Betrunkenen oder geistig Verwirrten umgehen zu müssen. „Das muss man lernen. Deshalb schulen wir unsere Mitarbeiter. Wir werden ständig vor neue Herausforderungen gestellt, jeden Tag. Dabei sind unsere Mitarbeiter unsere wichtigste Ressource, noch wichtiger als die Bücher.“

          Bibliothek als multifunktionaler Aufenthaltsraum: Cuyahoga County Public Library
          Bibliothek als multifunktionaler Aufenthaltsraum: Cuyahoga County Public Library : Bild: Hubert Spiegel

          In den Bibliotheken von Queens gibt es Sicherheitspersonal, das eingreifen kann, wenn es gar nicht mehr anders geht. Nach drei Verwarnungen wird ein Hausverbot ausgesprochen. Die Cuyahoga County Public Library bei Cleveland verzichtet auf Kontrollen und Wachpersonal. Neben Computerarbeitsplätzen, einem Tonstudio und einem Green-Screen-Filmstudio gibt es hier auch ein „Innovation Center“, das mit 3-D-Drucker und anderen Geräten bis hin zur Stickmaschine jedem Besucher zur Verfügung steht. Hier sollen auch Geschäftsideen ausprobiert werden. Besprechungsräume für Kundengespräche und ein Auditorium mit vierhundert Sitzplätzen können von jedem Bibliotheksbenutzer kostenlos angemietet werden. „Wir fragen nicht, was unsere Besucher hier machen“, sagt Sari Feldmann, Direktorin der Cuyahoga County Library und amtierende Präsidentin der ALA, „aber wir fragen die Bewohner des County regelmäßig, ob sie mit der Arbeit zufrieden sind, die wir leisten.“ Zuletzt lag die Zustimmung bei über achtzig Prozent, was bei Budgetverhandlungen sehr hilfreich sein kann.

          Sari Feldmanns Bibliotheken haben den „Children’s Internet Protection Act“ nicht unterzeichnet, weil das damit verbundene Filtersystem auch Netzbeiträge etwa über Brustkrebsvorsorge unterdrückt - als wäre allein die Erwähnung einer weiblichen Brust gleichbedeutend mit Pornographie. Sie vertraut darauf, dass ihre Besucher sich verantwortungsvoll verhalten. Zur Not wird ihnen dabei geholfen, ebenso wie bei der Jobsuche und beim Ausfüllen von Behördenformularen. Öffentlich finanzierte Bibliotheken wie jene in Queens oder Cuyahoga County ersetzen Volkshochschulen, Sozialarbeiter und manches andere mehr. Sie sind ein Angebot der Gesellschaft an jeden, der den Mut findet, sich seiner Bibliothek zu bedienen. Bibliothekare, blickt nach Amerika? Ja, denn der Bedarf an Bildungs- und Integrationsmaschinen wird auch hierzulande wachsen.

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