Alltag und Protest in Belarus : Sehen Sie hin!
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Protestierende in Minsk am 30. August 2020 Bild: Imago
Das System in Belarus bricht nicht zusammen, es ist schon zusammengebrochen. Jetzt gilt es, die toten Trümmer wegzuräumen und auf Komplexität zu verweisen. Notizen aus dem Leben in Minsk. Ein Gastbeitrag.
Der belarussische Raum war seit Jahrzehnten sehr eng. Man konnte sich kaum bewegen, ohne über den berühmten Satz zu stolpern „Sie verstehen doch alles selbst“. Das galt lange als Scheinerklärung, wenn etwas Sinnvolles nicht möglich oder etwas Unsinniges zwingend war. Sie verstehen doch selbst, warum dieses politische Kunstwerk nicht ausgestellt werden darf. Sie verstehen doch selbst, warum das Fach „Staatsideologie“ an den Hochschulen unterrichtet werden muss. Sie verstehen doch selbst, warum das Staatsfernsehen dieses bildhübsche Idealland Belarus zeigt, das keiner kennt. So gingen wir jahrelang gebückt in diesem „Wir verstehen es doch selbst“-Modus und suchten unsere Nischen im System und außerhalb. Eigentlich ein noch sowjetisches Muster: Äußerlich das glatte System, innerlich alles weit vielfältiger und komplexer, allerdings nur für diejenigen sichtbar, die genauer hinschauen wollen.
Wir bauten unsere Gänge, stärkten uns gegenseitig und wuchsen, bis das Staatsgebilde uns zu eng wurde und auseinanderfiel. Nun sind die Belarussen aus ihrem Staat herausgewachsen, wie man aus alten Kleidern herauswächst. Das System bricht nicht zusammen, es ist schon zusammengebrochen, jetzt versuchen wir, die toten Trümmer wegzuräumen, um uns einen Lebensraum zu verschaffen. Das sind schwere Brocken, es ist nicht auszuschließen, dass sie unseren Lebensraum unter sich begraben. Dann ist Belarus tot. Ein Raum, in dem Menschen gefoltert und zu Tode verprügelt werden, weil sie zu friedlichen Protesten gehen, in dem Kinder von Lehrkräften unterrichtet werden, die eingeübte Meister in Wahlfälschungen sind, ist kein Raum fürs Leben. Aus dem Verständnis dafür kristallisieren sich die wichtigsten Forderungen der Protestierenden: die Freilassung von politischen Gefangenen, die Ermittlung von Todes- und Folterfällen, der Rücktritt des Präsidenten, die Neuwahlen als Neustart des Staatssystems. Wenn jemand mich fragt, ob die Proteste weiter anhalten, frage ich zurück, ob man sich vorstellen kann, in einem Land zu leben, in dem diese Forderungen unerfüllt bleiben? Der Antrieb dieser Protestbewegung ist die existentielle Dringlichkeit dieser Forderungen. Verhandelt werden hier die Unantastbarkeit des menschlichen Lebens und der Würde, die Freiheit und das Recht auf ein selbstbestimmtes Leben. Ob der Protest nachlassen wird, ist für die meisten daher eine rhetorische Frage. Kann man auf den Trümmern leben, in der Angst, dass der nächste Brocken einen erschlägt?
Mein eigener Raum hat vielleicht zum ersten Mal die Konturen meines Landes eingenommen, davor hatte ich mich außerhalb des Systems arrangiert, als Übersetzerin: zwischen dem belarussischen und dem deutschsprachigen Raum. Ich bin immer noch in diesem Dazwischen, jetzt vermittle ich aber nicht nur für meine Autoren, sondern für das ganze Land. Seit drei Wochen beschäftige ich mich kaum mit was anderem als mit Kommentaren, Übersetzungen von Statements, ich stelle Literaturlisten zusammen, versuche, wichtige Stimmen aufzugreifen und weiterzuvermitteln. Denn das Land darf nicht übersehen, nicht versteckt werden hinter den eingefahrenen Floskeln wie „Das kennen wir ja schon aus der Ukraine“ oder „Da ist eh Russland im Spiel“ und Ähnlichem, besonders in Europa nicht. Schließlich wird hier in Belarus in dieser Zeit Europa verhandelt. Dies passiert nicht nur bei Protestaktionen, nicht nur in Petitionen und Stellungnahmen, sondern in jedem Gespräch, in jeder Äußerung und in jedem Schweigen.
Der Raum ist in Bewegung geraten
Der Druck, Position einzunehmen, ist enorm. Manchmal zu stark und sogar störend. Die Unsicherheit zu ertragen ist eine große Herausforderung. Der Wunsch, alles genau zu wissen, klare Linien zu ziehen, ist stark, was manchmal dazu führt, dass Lücken mit unstimmigen Interpretationen gefüllt werden, dass Teile der Realität abgeschnitten werden, damit das eigene Bild stimmig bleibt, dass Solidarität mit Einstimmigkeit verwechselt wird, dass Hinterfragen nicht zugelassen wird. Die Versuchung, alles in schwarzweiße Raster zu packen, ist groß. Groß ist aber auch die Chance, genau hinzuschauen und zu versuchen, diesen kulturellen und politischen Raum, ja sich selbst in der ganzen Komplexität und Vielfalt unter die Lupe zu nehmen und Hintergründe ans Tageslicht zu befördern.