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Philosophie in der Pandemie : Abwägung abwägen

In der Corona-Krise sind Abwägungen ständig notwendig. Bild: dpa

In der Corona-Krise muss vorsichtig abgewogen werden: welche Rolle Stimmungen in der Bevölkerung bei Lockerungen spielen und wo die Grenzen des Gesundheitsschutzes liegen.

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          Auch eine prinzipienorientierte Reflexion könne die detaillierte Einzelfallprüfung nicht ersetzen, schreibt Christoph Demmerling in der Einleitung zum Schwerpunkt „Corona – eine Zwischenbilanz“ im jüngsten Heft der „Deutschen Zeitschrift für Philosophie“ (Jg. 69, Heft 1, Verlag de Gruyter, Berlin 2021). Wie auch anders, sollte man meinen.

          Die Anwendung eines oder mehrerer Prinzipien verlangt eine genaue Beschreibung des Falls, der unter sie subsumiert werden soll. Das macht ja gerade den Reiz von juristischer wie philosophischer Urteilsbildung aus, dass sich aus dem speziellen Gelagertsein des Falles entscheidet, wie welche Prinzipien der Beurteilung greifen oder, anders gesagt: „welche Arten und Weisen von Fakten und Bewertungen für das Thema überhaupt relevant sind und zueinander ins Verhältnis gesetzt werden sollten“, wie Hans-Peter Krüger in seinem Aufsatz ausführt. Es gibt in diesem Sinne keine evidenzbasierte Beschreibung, die sich nicht selbst wieder bestimmten Vorannahmen und Einseitigkeiten verdanken würde – ebenden jeweiligen „Intentionalitäten“ (Edmund Husserl), in denen sich das Gemeinte phänomenologisch darstellt.

          Von daher ist auch die beinahe zum geflügelten Wort gewordene Wendung „Das Virus ist unser Gegner“ nicht richtig, wenn damit im politischen Sprachgebrauch strittige Stellungnahmen zum Virus gegen Kritik immunisiert werden sollen (wie in dem Satz von Jens Spahn: „Das Virus ist unser Gegner und nicht die Pharmaindustrie oder wir alle gegenseitig.“). Das Virus ist unser Gegner, aber es hat uns selbst nichts zu sagen, sondern spricht in den Mitteilungen, die sich die Menschen einander von ihm machen. Insofern bleibt die Gegnerschaft zwischen Mensch und Virus auf den sprachlichen Code angewiesen, in dem sie ausgetragen wird.

          Sprache der Abwägung

          Es ist näherhin die Sprache der Abwägung, die in der Politik nicht anders als in Jurisprudenz und Philosophie den Umgang mit dem Virus prägt, wenn auch auf jeweils ganz verschiedene Art und Weise. Die Politik nimmt auch Stimmungen in die Kriteriologie hinein, so wenn der hessische Ministerpräsident im Blick auf die anstehenden Kommunalwahlen erklärt: „Die Leute haben die Schnauze voll“, und dies als Argument verstanden wissen möchte, gegen den Stachel der von ihm selbst mit beschlossenen Einschränkungen zu lockern. Indirekt schlägt diese Sehweise freilich auch bei Juristen und Philosophen zu Buche, dann nämlich, wenn sie grundsätzlich festhalten, dass Normativität nicht unabhängig von ihrer gesellschaftlichen Akzeptanz Sinn ergibt.

          Mit anderen Worten: Auch für Juristen und Philosophen fließen, allgemein gesprochen, Gesichtspunkte der Akzeptanz in die Abwägung normativer Beurteilungen ein, sind gleichsam Teil des Gegenstands, den es zu beurteilen gilt. Die Frage ist dann wiederum, in welchem Grad die Akzeptanzfrage ins Gewicht fällt, wie sie sich mit anderen Aspekten vermitteln lässt, womöglich auch mit deontologischen Figuren unbedingter Verbote der Folter und anderer körperlicher wie seelischer Übergriffe.

          Nachdem die juristischen Voraussetzungen des Abwägens von Gertrude Lübbe-Wolff in ihrem Traktat „Das Dilemma des Rechts“ (Schwabe Verlag, Basel 2017) auf höchst prägnante Weise entfaltet worden sind, widmet sich Lutz Wingert dieser geistigen Tätigkeit in seinem Beitrag zur „Zwischenbilanz“ in philosophischer Hinsicht, und zwar unter der Überschrift „Wir müssen abwägen – aber wie sollen wir abwägen?“.

          Gesundheit setzt Freiheit voraus

          Wingert, der sich zur Pandemie auch schon in der F.A.Z. geäußert hat, stellt die Frage ins Zentrum, wie Gesundheit und Freiheit ins Verhältnis zu setzen seien, und hält dafür, dass Gesundheit vom Grundsatz her immer auch Freiheit voraussetze. Beide Güter könnten daher in einem strikten Sinne nicht gegeneinander ausgespielt werden, also in einem Sinne, der mehr meine als eine „temporäre Diät“.

          Zum Gesundsein gehöre eine bestimmte Sorte Erleben: „Ein gesunder Mensch erlebt seine Gesundheit auch als ein Gesundsein in seinem lebendigen Tun. Und zu diesem Tun gehören freie Betätigungen. Deshalb fühlt sich der Gesunde auch in einem minimalen Sinn frei zu einem Tun.“ Eine Bestimmung, die freilich mehr Fragen aufwirft, als sie beantwortet: Wie bemisst sich das Maß des Minimalen, um vom Erleben der Freiheit sprechen zu können? Und was meint hier Freiheit: äußere Freiheit als Handlungsfreiheit oder innere Freiheit, die sich auch unter Einschränkungen, gar unter Zwang behaupten könnte?

          Jenseits solcher, in ihrer prinzipiellen Natur genuin philosophischen Gesichtspunkte geht es Wingert um einen für die politische Entscheidungspraxis unmittelbar beachtlichen Aspekt – jenen der Erwerbstätigkeit in Zeiten der Pandemie. „Wir müssen dem allgemeinen Gesundheitsschutz dort eine Grenze ziehen, wo das individuelle Recht verletzt wird, sich durch eigene Arbeit über Wasser halten zu können, und wo der zugemutete Verzicht auf die Ausübung dieses Rechts nicht durch die Pflicht zu sozialstaatlichen Ausfallbürgschaften kompensiert werden kann“, fordert Wingert. Anderenfalls gerate das Verhältnis zwischen individuellem Recht und kollektivem Präventionsgebot aus der Balance. Der persönliche Ruin fungiert demnach als Grenze der pandemischen Rücksichtnahme. Er kann nicht gesund sein.

          Christian Geyer-Hindemith
          Redakteur im Feuilleton.

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