Zerfällt Europa? (4) : Eine Atempause für Europa
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Erst geriet die Europäische Währungsunion in die Krise, jetzt steht die Zukunft des Schengen-Raums auf dem Spiel. Wenn wir einheitliche europäische Antworten nicht finden, wird Europa, wie wir es kennen, zerbrechen und sich zu einer großen Freihandelszone zurückentwickeln.
Wenn wir von Europa sprechen, bleiben wir gern ein bisschen unscharf. Meist meinen wir die Europäische Union. Aber natürlich gehören auch die Schweiz, Serbien oder Russland zu Europa. Wir machen uns selber oft gar nicht klar, ob wir mit Europa eine Völkergemeinschaft mit gemeinsamen demokratischen Werten, die Europäische Währungsunion, das Schicksal des Kontinents oder die EU in ihrer institutionellen Ausgestaltung meinen.
Diese Unschärfe ist grundsätzlich auch nicht schlimm. Sie kann sogar wohltätig und unvermeidlich sein, wenn man unterschiedliche Menschen, unterschiedliche Mentalitäten und gegensätzliche politische Strömungen unter einer Fahne versammeln und auf gemeinsame Ziele einschwören will. Solche Unschärfe kann aber sehr gefährlich werden. Dann nämlich, wenn wir die emotionalen Begriffe für konkrete Entscheidungen in Haft nehmen, die eigentlich auf einer sachlichen Ebene vorbereitet und getroffen werden müssen. Und wenn wir mit emotionalen Appellen, hinter denen wir uns versammeln können, sachliche Ungereimtheiten und unterschiedliche Zielsetzungen verdecken. So können leicht politische Konstruktionen entstehen, deren innere Statik nicht stimmt und die umso mehr Risse zeigen, je stärker sie belastet werden.
Die so erzeugten Widersprüchlichkeiten gehörten bereits zu den Geburtsfehlern der 1957 gegründeten Europäischen Wirtschaftsgemeinschaft (EWG), und sie wurden im Verlauf ihrer Weiterentwicklung und Erweiterung durch immer neue schwerwiegende Widersprüchlichkeiten ergänzt. Das Jahr 2016 kann für die Europäische Union zu einem Wendejahr werden, in dem die Folgen dieser Widersprüchlichkeiten sich mit noch unbekanntem Ergebnis kombinieren.
Am Beginn der europäischen Integration stand in den 1940er Jahren die Idee eines vereinigten Europas, das man sich ganz naiv als einen europäischen Bundesstaat vorstellte. Besonders in Deutschland mit seiner belasteten Vergangenheit waren viele begeistert von dieser Perspektive. Helmut Kohl gehörte damals zu den jungen Leuten, die in einem symbolischen Akt Schlagbäume zwischen Deutschland und Frankreich niederrissen. Diesem Traum ist er auch als Bundeskanzler treu geblieben.
Der erste Frosthauch legte sich auf die Idee eines Europäischen Bundesstaates, als das französische Parlament 1954 die Europäische Verteidigungsgemeinschaft (EVG) ablehnte. Nicht einmal zur Zähmung der deutschen Militärmacht wollten die Franzosen ihre eigene Armee aufgeben. Daran hat sich auch sechzig Jahre später nichts geändert.
So verlagerte sich die Europäische Integration mit der Montanunion und der Europäischen Wirtschaftsgemeinschaft (EWG) zunächst auf den Bereich der Wirtschaft. Das war und ist eine riesige Erfolgsgeschichte. Das gilt nicht nur für die Zollunion, sondern auch für das europäische Wettbewerbsrecht und für die Niederlassungsfreiheit von Unternehmen und Gewerbetreibenden. Der regulierte europäische Agrarmarkt mit seinen garantierten Preisen, seinen absurden Interventionsverpflichtungen, seinen gewaltigen Kosten, Milchseen und Butterbergen war natürlich eine krasse Fehlentwicklung. Aber damit erkauften sich die Deutschen die Zustimmung der Franzosen zum Europäischen Wirtschaftsraum und zu einheitlichen Wettbewerbsregeln.